[MSG] Mithras' Siege Online

 
Oliver duckte sich hinter seinen Schild, dennoch verlor er einen Batzen Leben durch den Angriff des Bosses. Kein Wunder, wenn dieser ihn mit Feuerstrahlen beschoss. Wieso hatte er auch wie ein Irrer vorstürmen müssen und dem Tank die Aggro geklaut? Schliesslich hörte die Hitze auf und er senkte seinen Schild. Und da starrte das Monster direkt in seine Augen. Es war ein furchteinflössender Anblick. Ein Echsenkopf, aber mit drei Augen und einem halben Dutzend, in alle Richtungen schauenden Hörner. Tharj, der Feuerzahn, ein Zwischenboss der Roten Höhlen. Und während er in diese Augen starrte und sah, wie sich die Zahnreihen vor ihm aufklappten, als ihn eine wahre Flutwelle an Speichel traf, wusste er, dass es wieder vorbei war. Er konnte sich Talker, seinem Krieger, verabschieden.
Er erhaschte noch einen letzten Blick auf Maylin, die Anführerin seiner Gruppe, die von der Seite auf den Lindwurm zuschoss. Er wusste, dass sie es wahrscheinlich auch ohne ihn schaffen würden. Wahrscheinlich könnte Maylin sich hier ganz alleine durchprügeln, das verbissene Miststück. Mit diesen Gedanken im Kopf schloss sich das Maul um ihn und alles wurde schwarz.

‚GAME OVER!‘, prangte in fetten Lettern vor Oliver in der Schwärze. In der unteren Ecke leuchtete ein rotes Viereck. Mit einem Gedankenbefehl drückte er darauf und die deprimierende Bild verschwand und wurde durch seine Zimmerdecke ersetzt. Er hob die Hand und drückte auf den seitlichen Knopf, die Gläser vor seinen Augen fuhren hoch und die Klammerfunktion an seiner Kopfdecke löste sich. Wütend riss er sich dann den Helm vom Kopf und knallte ihn gegen die Wand. Wahrscheinlich ging das Mistding davon nicht mal kaputt!
Nachdem ihn sein Wutausbruch in eine sitzende Lage gebracht hatte, konnte er gleich aufstehen. In Socken schlurfte er zu seinem Schrank und packte sich schnell ein Paar Segeltuchhosen und ein Hemd, zog beides an und verliess dann sein Zimmer. Es war noch morgen, wahrscheinlich schlief die ganze Familie noch. Er hatte heute beweisen wollen, dass er auch ohne Hilfe seines Bruders zurechtkam. Das war ja super gelaufen. Er wollte sich gar nicht an die Launen seiner Eltern nach seinem letzten Tod erinnern. Besser er verzog sich erst mal. So leise wie möglich stieg er die Treppen hinab und stemmte die Haustür auf. Verdammt Golddinger, wieso mussten die auch so schwer sein?! Natürlich hätte er sie auch mit einem Befehl öffnen können, aber das hätte eine Nachricht an seine Eltern geschickt und seine Mutter hatte einen verdammt leichten Schlaf. Als er sie schliesslich weit genug offen hatte, schlüpfte er hindurch, huschte durch den Garten und kletterte über den Zaun. Seine Eltern mochten das Retroquietschen und das war einfach viel zu auffällig.
Schliesslich stand er auf der Pflasterstrasse. Alles leer. Natürlich. Wer würde schon an einem Morgen rausgehen. Entweder schliefen die Leute noch oder sie hingen – wieder oder immer noch – an ihrem V-Gear. Er würde niemandem auffallen.
Seine Schritte verlangsamten sich und er schlenderte langsam die Häuserreihe entlang, bis er weitervorne abbog und in den Park gelangte. Hier gab es wohl die einzigen Bäume, die man in Peak 8 finden konnte. Die Ruhe und der Geruch nach frischem Gras und Erde beruhigten ihn. Er war ziemlich gerne hier. Die Leute, die Ingame-Wälder dem hier vorzogen, waren nicht ganz dicht. Sein Weg führte ihn tiefer hinein, bis er durch die Wipfel nicht einmal mehr die Hausdächer die Hausdächer sehen konnte. Dort legte er sich in einer Lichtung ins Gras und sah zum Himmel hinauf. Es gab kaum Wolken heute. Nur einige wenige schwebten über ihn hinweg. Oliver gähnte. Die ganze Nacht auf sein und Quests erledigen und dann auch noch in einen Dungeon gehen war vielleicht doch keine so gute Idee gewesen. Jetzt würde er wieder neu anfangen müssen und wahrscheinlich würden ihn seine Eltern wieder Dutzende von Tests ausfüllen lassen, um die passendste Klasse für ihn herauszufinden. Wieder gähnte er, streckte sich und rollte sich dann zusammen. Die Sonne war trotz des Morgens ziemlich warm…

Der Himmel färbte sich bereits rot, als Oliver die Augen wieder aufschlug. Wie lange hatte er geschlafen? Auf jeden Fall zu lange. Seine Eltern wussten bestimmt bereits, dass er getötet worden war, schliesslich musste er von ihrer Kontaktliste verschwunden sein. Wahrscheinlich wartete sie bereits auf ihn. Er schauderte. Die beiden konnten wirklich furchteinflössend sein, wenn sie wütend waren, dagegen war der Anblick von heute Morgen gar nichts. Schleunigst machte er sich auf den Weg zurück. Je eher er das Donnerwetter hinter sich brachte, desto besser.
Natürlich waren die Strassen wieder leer, als er zurückkehrte. Alle drinnen. Vor dem schmiedeeisernen Tor seines Hauses blieb er stehen und legte eine Hand auf die Identifierungsplatte.
„Identifiziere: Oliver Fitzgerald, wohnhaft 4778-01. Eintritt verweigert. Unerlaubter Aufenthalt. Bitte kehren Sie unverzüglich zurück auf Ebene 01 zurück, ansonsten müssen wir eine Geleitdrohne rufen“, ertönte eine mechanische Stimme. Oliver stutzte, war für einen Moment wie erstarrt. Da musste ein Fehler vorliegen. Noch einmal berührte er die Platte.
„Identifiziere: Oliver Fitzgerald, wohnhaft 4778-01. Eintritt verweigert. Unerlaubter Aufenthalt. Bitte kehren Sie unverzüglich zurück auf Ebene 01 zurück, ansonsten müssen wir eine Geleitdrohne rufen.“
Was war hier los?! Wieso öffnete sich das Tor nicht? Verzweifelt berührte er die Platte noch ein drittes Mal.
„Identifiziere: Oliver Fitzgerald, wohnhaft 4778-01. Eintritt verweigert. Unerlaubter Aufenthalt. Eine Geleitdrohne ist auf dem Weg, um Sie abzuholen. Bitte verhalten Sie sich ruhig.“
Sie hatte ihn rausgeworfen! Seine Eltern hatten ihn aus dem Haus geworfen. Und da sein Charakter gerade gestorben war, wurde er nach Ebene 1 verschoben!
„Mum! Dad!“, rief er verzweifelt, während er hinter sich schon das Piepsen der Drohne hörte. „Das kann nicht euer Ernst sein! Kommt schon! Ihr könnt das nicht machen! Das ist nicht fair!“
Doch all sein Rufen half nichts. Nicht mal Trace tauchte auf, auch wenn er meinte, ein Gesicht hinter seinem Fenster entdecken zu können, als sich die Metallzange der Drohne um seine Schulter schloss und ihn sanft, aber unweigerlich davonzog.

Drei Tage war es jetzt schon her. Oliver lag auf der harten Matratze seines neuen Zuhauses, einem kleinen, würfelförmigen Zimmer aus Beton, ausgestattet mit einem kleinen Herd, einem Bett und einem kleinen abgetrennten Raum, in dem sich eine Dusche und eine Toilette befanden. Und natürlich eine kleine Säule neben dem Bett. Sonst nichts. Auf der Säule lag, immer noch unberührt, das V-Gear, dieser verdammte, silberne Helm. Seit er hier war, hatte Oliver nur gegessen, geschlafen oder apathisch vor sich hingestarrt. Der Anblick bei seiner Ankunft hatte ihn zutiefst erschüttert. Die grauen Gänge, nur erleuchtet von schwache Lampen und überall Türen. Nur Türen. All dies waren Wohnungen wie seine, manche vielleicht ein wenig grösser, wenn sie Familien beherbergen mussten, aber insgesamt sicher nicht besser ausgestattet. Nirgends gab es etwas anderes ausser Stein. Und er vermisste die Sonne. Wahrscheinlich würde er sie nie wieder sehen. Ausser… Er starrte auf den Helm. Es war seine einzige Möglichkeit. Wenn er je hier rauskommen wollte, musste er wieder spielen. Er musste besser werden. Er musste es seinen Eltern beweisen! Selbst wenn es nicht reichen würde, um alleine wieder auf Ebene 14 zu kommen, vielleicht würden sie ihn wieder aufnehmen.
Entschlossen griff er nach dem Helm und setzte ihn auf. Die Matratze fühlte sich ganz anders an, als er es gewöhnt war und er rutschte einige Male hin und her, bis er einigermassen bequem lag. Er würde es sowieso nicht mehr bemerken, sobald er das V-Gear eingeschaltet hatte. Gesagt, getan. Er tippte den Knopf auf der Seite und die hellblauen Gläser schoben sich über seine Augen. Für einen Moment flackerte seine Sicht und er hatte das Gefühl in die Tiefe zu fallen, dann war er eingeloggt.
Das Spiel erkannte automatisch seine Identität und er wählte Mithras‘ Siege Online aus. Dort blinkte immer noch der GAME-OVER-Bildschirm. Oliver wählte diesmal nicht den roten Ausloggbutton, sondern das grüne Dreieck in der linken Ecke. Die Ansicht änderte und er war in der Lobby von Mithras‘ Siege Online. Um ihn herum flogen Bilder mit Ausschnitten von Monstern und Landschaften aus dem Spiel. Eigentlich sollte hier jetzt sein Charakter stehen, den er berühren musste, um sich einzuloggen. Aber da Talker, sein Krieger getötet worden war, befand sich vor ihm nur ein schwarzer Schemen. Oliver streckte die Hand aus – In der Lobby bestanden sie aus ätherischem blauem Licht – und berührte diesen. Sofort veränderte sich seine Umgebung wieder und um ihn herum tauchten zwölf Gestalten auf. Zwei von jeder Rasse, vor ihm die Avaritaer, dann die Nordin, die Zwerge, die Goblins, die Elfen und die Leprechaun. Eine Frauenstimme ertönte und bat ihn, das Volk und Geschlecht seines Charakters auszusuchen. Er überlegte nicht lange und berührte den Avaritaer. Alle seine Charaktere hatten bisher dem Menschenvolk angehört.
Als nächstes tauchte der Attributeschirm mit der Aufforderung, 16 Punkte beliebig zu verteilen auf. In Geschick und Willenskraft war bereits einer vorgegeben. Diesmal zögerte Oliver. Bisher hatte er fast immer Krieger gespielt, davor einige Male Fechter. Also begann er, Punkte in die Kriegerattribute zu setzen, doch dann dachte er sich, dass ihm beide Klassen nicht besonders gut gelegen hatten. Er hielt inne, zog die Hand zurück und dachte nach. Eigentlich hätte er gerne einen Magier gespielt, aber die Tests, die er für seine Eltern hatte ausfüllen müssen, hatte immer davon abgeraten, Punkte in Magierattribute zu stecken. Ha! Denen würde er es zeigen. Magier also. Intelligenz und Willenskraft. Er begann aufzufüllen, doch besonders viel hatte er nicht mehr übrig. Er hatte seine Punkte jetzt quer über den Schirm verteilt. Das passte zu keiner der bekannten Klassen. Andererseits… was hatte er zu verlieren, wenn er jetzt weiterging? Und wer sollte ihn jetzt schon aufhalten? Zum ersten Mal grinste Oliver. Fuck the system! Jetzt konnten ihn seine Eltern nicht mehr in irgendein Schema pressen. Er würde machen, was er wollte! Ha!
Entschlossen schob er den Bildschirm weiter. Aussehen war der nächste Punkt. Das hatte er noch nie gerne gemacht. Kurz zögerte er, dann tippte er auf den ‚Zufällig‘-Button. Jetzt nur noch ein Name, dann wäre er fertig. Mit Namen war Oliver ganz schlecht. Er hatte bisher immer den Namen verwendet, den ihm seine Eltern vorgegeben hatten, Talker, weil er immer so viel redete. Andererseits… sie hatten ihm gar nichts zu sagen! Er würde das Gegenteil von dem machen, was sie ihm immer gepredigt hatten und er würde damit erfolgreich sein! Er sagte den Namen, den er ausgewählt hatte und alles um ihm herum wurde schwarz.
Zuerst tauchte eine Benachrichtigung auf: ‚Eintrag in Datenbank wird vorgenommen, bitte warten.‘, stand da. Dann tauchte ein Bild seines Charakters auf, mitsamt Statistik. Darauf hatte Oliver am meisten gewartet. Erst da wurde nämlich die Klasse bekannt gegeben. Sein neuer Avatar, Listener, war ein… Wüstenrufer? Was war ein Wüstenrufer? Er hatte zwar gewusst, dass er so eine unbekannte Klasse bekommen würde, aber von einem Wüstenrufer hatte er noch nicht einmal ingame gehört. Hoffentlich war das keine schlechte Klasse, sonst würde seine Rebellion gegen seine Eltern ziemlich in die Hosen gehen. Oliver konnte schon fühlen, dass das nicht gut ausgehen würde. Wahrscheinlich würde ihn der erste Wolf am Wegesrand erschlagen…
Apropos Wolf, da tauchte schon das nächste Bild auf. Das Startgebiet wurde auch zufällig gewählt. Das letzte Mal war er in einem Bergdorf der Nordin aufgetaucht, diesmal war es die Stadt Haven, eine kleine Hafenstadt von Avaritaern. Je weiter er lass, desto unbehaglicher wurde ihm. Die Stadt lag auf einer Landzunge, die von einem Orkheer abgeschnitten wurde und bald würde ein Angriff erfolgen. Was war das für ein Stadtgebiet?!
Bevor er sich weiter Gedanken machen konnte, verschwanden die beiden Infoboxen und er schlug die Augen auf. Hinter ihm rauschte das Meer und in seiner Sandale steckte ein Steinchen. Genervt bückte er sich, um sie zu öffnen und betrachtete fasziniert seine Hände, die so ganz anders aussahen, als seine richtigen Hände. Diese hier waren von einem dunklen Hautton, waren rau und über die linke Hand zog sich eine helle Narbe. Bevor Oliver sich umsah, fuhr er mit der Hand mehrmals langsam vor sich durch die Luft, um das Menü zu öffnen. Dort betrachtete er zuerst seine Ausrüstung – Leder, einigermassen vernünftige Rüstungswerte, aber sonst keinerlei Boni, als Waffe ein simpler Speer – , danach las er sich die Klassenbeschreibung durch. Ein Nahkampfmagier aus der Wüste? Nun, er hatte schon von schlimmeren Klassen gehört, Anwalt etwa, oder Nonne. Wer zum Teufel packte eigentlich solche Klassen in ein Kampfspiel? Er würde es wohl nie erfahren. Stattdessen besah er sich seine Zauber. Sah alles ganz ordentlich aus. Er beschäftigte sich etwa eine halbe Stunde damit, die Zaubersprüche auswendig zu lernen. Er wusste, eine Magierklasse ohne Zauber war nicht für viel zu gebrauchen.
Nachdem er das erledigt hatte, sah er sich um. Am Hafen lagen mehrere Schiffe, doch in der Ferne war Nebel und der Schatten von Orcschiffen zu sehen. Eine Seeblockade gab es also auch noch… Egal, er musste hier irgendwo eine Quest finden. Oft gab es gleich beim Startpunkt eine gute, persönliche Quest, bei der man sich ein besseres Item oder eine neue Fähigkeit besorgen konnte. Auf gut Glück sprach er einen NPC, einen alten Mann mit Bart an.
„Haben Sie eine Aufgabe für mich?“, fragte er ihn. Aufgabe funktionierte immer, wenn man Quests suchte.
„Eine Aufgabe, junger Mann… Nun, lass mich dir meine Geschichte erzählen…“
Entnervt verdrehte Oliver, oder besser gesagt, sein Avatar die Augen, doch er hörte sich die Geschichte des Mannes an, der einmal Händler war, dessen Schiff aber von einer Seeschlange angegriffen wurde und sein Schiff nun in einer Höhle irgendwo entlang der Küste lag. Und wie er ein Geschenk für seine Frau dort vergessen hatte, sich seither aber nicht mehr aufs Meer hinaus traute. Wer zum Teufel schrieb eigentlich für jeden Questgeber einen solch ellenlangen Text und vertonte ihn dann auch noch? Die Entwickler dieses Spiels mussten damals eindeutig zu viel Geld gehabt haben. Aber die Belohnung war ziemlich gut. Alleine würde er es trotzdem nicht schaffen. Am besten suchte er sich drei, vier Leute, mit denen er die Quest dann teilte. Am besten über den Stadtchat.
Mithras‘ Siege Online verfügte zwar nicht über globale Chatmöglichkeiten, aber in jedem sicheren Standort gab es einen Stadtchat, damit man sich Leute für Quests suchen konnte. In diesen Chat schrieb Oliver nun eine kurze Nachricht.
„Suche Leute für Quest. Jede Menge Gold und eine gute Belohnung.“

Tharj lag darniedergestreckt in einer Lache seines eigenen Blutes. Zwei der Hörner des Drachen waren abgebrochen. Eines steckte noch in einem seiner Opfer, das andere war selbst einem Kriegshammer zu Opfer gefallen und steckte vermutlich irgendwo. Nicht, dass das wichtig wäre. Oliver war tot, mal wieder. Man sollte meinen, dass jeder nach einer Weile die Basics des Spiels verstanden hätte. Grundregel Nummer eins: Stehe nicht vor einem Drachen. Regel Nummer zwei: Stehe nicht hinter dem Drachen. Es gab zehnjährige Kinder, die das wussten und beachtete, warum stellte sich Oliver dabei dann so selten dämlich an? Dazu hatte er kein Recht! Eigentlich sollte er es doch locker schaffen wenigstens ein paar Level empor zu klettern und dann nicht bei irgendeiner saublöden Aktion draufzugehen. Warum gab sie sich eigentlich solche Mühe, wenn es ihr mit sowas gedankt wurde, hm? Und natürlich hatte der blöde Drache mal wieder nur absoluten Rotz dabei. Eine Beinrüstung und ein paar Schuppen. Die würden gar nichts einbringen. Zeit die Beute auf...zu...teilen. Ach ja, Oliver hatte es nicht nur geschafft sich selbst zu töten, sondern die Lichtpriesterin der Gruppe gleich auch noch. Daraufhin war der Paladin weggeknickt und der Magier war auch nicht schnell genug gewesen. Das ganze ließ sich mit vollem Recht als SuperGAU bezeichnen. Lady Maylin stieß einen Seufzer aus und schnippte mit einer Handbewegung das Blut von der Klinge ihres Schwertes. Die roten Höhlen waren zwar technisch gesehen alleine machbar, aber das war anstrengend und teilweise gefährlich. Die Elfe drehte sich um und verließ die Höhlen auf dem gleichen Weg, wie die Gruppe hinein gekommen war. Hier gab es eh nichts mehr zu tun.

"Schatz, du siehst heute so bedrückt aus. Was ist los?", offenbarte Madame duFavré jene Art an Fähigkeit der Deutung von Gesichtsausdrücken, die selbst kurzsichtigen Maulwürfen in tiefdunklen Höhlen gelingen mochte. Maya sah aus als hätte sie nicht nur in eine Zitrone gebissen, sondern als bestände das gesamte Frühstück aus Zitronenbrötchen mit Zitronenbelag. Selbst die Servierdrohne machte einen weiten Bogen um Mayas Sitzplatz. Mayas Vater ging, wie üblich, während des Frühstücks seine Nachrichten durch. Die duFavrés standen mit jedem auf gutem Fuß und so machte das Datapad in den Händen ihres Vaters beständig pling. Nach kürzester Zeit merkte man, wie das Geräusch über die Hirnrinde schabte.
"Oliver ist gestorben", gab Maya nach einer Weile murrend zu Protokoll. Ihre Eltern warfen sich über den Tisch einen Blick zu. Madame ließ einen leisen Seufzer hören. Das Frühstück fand bei den duFavrés, die fanatische Langschläfer waren, nie vor zwölf Uhr statt.
Vater duFavré erhob als erster wieder das Wort, mit einem gewissen Grad Unbill in der Stimme: "Seine Eltern haben ihn, hrm, rausgeworfen." Madame ließ ein weiteres Seufzen hören und legte in einem Anflug von Vorahnung ihre Hand auf die ihrer Tochter, die auch gleich loswetterte.
"Aber, das können sie doch nicht tun!"
"Es ist ihr Haus und ihr Sohn. Natürlich können sie es tun."
Wäre da nicht der kaum verhohlene Ärger in der Stimme ihres Vaters gewesen, Maya hätte es wohl kaum geschafft sich zu beruhigen. Stattdessen fragte sie mir ruhiger Stimme: "Darf ich entschuldigt werden? Ich habe etwas zu erledigen."
Sie würde es den Fitzgeralds schon zeigen. Wie konnten sie es wagen ihren Sohn auf die Straße zu setzen? Und am Ende würden alle wissen, dass eine duFavré Oliver zurück auf Ebene 14 geholfen hatte. Das war ein Gefallen, den man irgendwann wieder einlösen konnte. Außerdem mochte sie den verpeilten Kerl irgendwie, auch wenn er das Spiel nicht ernst zu nehmen schien. Aber das würde sich ja jetzt ändern, nicht wahr?

Es gab nur eine begrenzte Menge an Startarealen. Schließlich wollte man eventuelle Neulinge nicht sofort einem Drachen zum Fraß vorwerfen. Alle Gebiete mit den richtig knackigen Gegnern schieden also aus. Damit blieb immer noch ein riesiger Haufen Platz übrig, in dem Oliver bei seinen nächsten Besuchen hatte spawnen können, aber es ließ sich zumindest etwas eingrenzen. Neue Charaktere ließen sich außerdem schnell an ihrer mülligen Ausrüstung erkennen. Außerdem war die Einwohnerzahl von Peak 8 begrenzt und es starb auch nicht jeden Tag jemand. Umso verwunderlicher war es, dass die Elfe Lady Maylin selbst am dritten Morgen nach dem Tod des Kriegers Talker immer noch nicht Olivers neuen Avatar gefunden hatte. Drei Tage reichten kaum aus, um aus einem Startareal zu entfliehen, weit konnte er also nicht gekommen sein. Außerdem wusste Maya, dass Oliver eine Vorliebe für Menschen hatte. Bisher war sie einer Handvoll Elfen begegnet, einem paar Zwerge, irgendjemandem, der mit einer Menschenfrau überkompensierte und noch einer anderen Handvoll Nicht-Olivers.
Nun drängte sich allerdings ein Problem auf. Das Geld ging ihr aus. Die letzten Goldmünzen waren für eine Überfahrt auf diese Landzunge draufgegangen, von der Maylin wusste, dass sie eines der Gebiete war, auf denen das Spiel gerne mal neue Charaktere herauswarf.
„Suche Leute für Quest. Jede Menge Gold und eine gute Belohnung.“
Der Ruf kam wie ein Wunder direkt nach einem verzweifelten Gebet an die Götter.
"Bin ein erfahrener Fechter. Könnte das Gold gut gebrauchen", setzte Maylin eine Antwort ab.

Lustlos stocherte Sam mit dem Löffeln in dem klebrigen Brei herum, der ihr Müsli war. Sie hatte ungeachtet des missbilligenden Blicks ihres Vaters einen Ellbogen auf den Tisch gestützt und hielt mit der entsprechenden Hand ihr Kinn. Der Missmut war ihr deutlich anzusehen. Es lag nicht am Müsli. Müsli war schon in Ordnung. Müsli war effizient. Bei den Greenbergs gab es immer Müsli zum Frühstück. Oder besser gesagt: die Eltern aßen aus Überzeugung Müsli und hatten diese Überzeugung an ihre Kinder weiter gegeben. Sams Brüder hielten sich was dies anging nicht immer an ihre Erziehung, aber Sam selbst war am Frühstückstisch zumeist fügsam. Dad hatte ja recht, wenn er für Müsli argumentierte. Es war leicht und ausgewogen, aber hielt lange vor. Das war das wichtigste. Wer nach zwei Stunden schon wieder hungrig war erbrachte nach zwei Stunden keine ordentliche Leistung mehr. Ein V-Gear konnte vieles simulieren, aber die elementaren körperlichen Bedürfnisse blieben.
Das Frühstück war die wichtigste Mahlzeit für die Greenbergs. Beim Frühstück hatten alle anwesend zu sein, darauf legten die Eltern wert. Nicht, dass sich alle daran hielten. Im Augenblick waren sie zu fünft. Dan hatte sich mit der Ausrede, er wäre früh aufgestanden und stecke gerade mitten in einem Dungeon fest, entschuldigt. Mum hatte ihm natürlich geglaubt, aber Sam wusste es besser: Dan war nicht früh aufgestanden, er hatte gar nicht erst geschlafen. Dan hatte einen gestörten Schlafrhythmus, wegen dem er sich besser von einer Medidrohne durchchecken lassen sollte, da war Sam sich sicher, aber ihr Bruder schien sich nicht daran stören und vor den Eltern wusste er sein nächtliches Verhalten gut zu verbergen. Die Greenbergs glaubten an einen geregelten Schlaf, ebenso wie an Müsli. Wer unausgeschlafen zockte ging ein lächerlich unnötiges Risiko ein. Aber solange Dan sich keinen auffälligen Fauxpas erlaubte nahmen sie ihm die Frühaufsteher-Nummer ab. Ben war auch nicht beim Frühstück und über sein Fehlen hatte Dad sich doch merklich geärgert. Ben war der Jüngste der vier Greenberg-Söhne. Er war diese Nacht mit Freunden feiern gegangen. Dagegen hatten die Eltern zwar nichts, aber sie wären ihm doch ganz dankbar gewesen, wenn er am nächsten Morgen wenigstens in seinem eigenen Bett gelegen hätte. Tat er aber nicht. Für Sam ließ das nur zwei Optionen offen: entweder er schlief bei einem seiner Kumpels, dessen Bude auf dem Weg gelegen hatte, seinen Rausch aus, oder aber er hatte - wieder einmal - ein Mädel aufgerissen und war mit diesem nach Hause gegangen. Mum selbstverständlich malte sich die fürchterlichsten Horrorszenarien aus, wenn Ben nicht nach Hause kam. So kühl und rational sie an Spiele heran gehen konnte, so unvernünftig konnte sie in solchen Dingen sein. Morgendliche Abwesenheit sah sie nicht um ein Jota unverkrampfter als Dad. Auch wenn der ganz andere Beweggründe hatte. Dad ging es um das Ritual. Darum, dass man als Familie wenigstens einmal am Tag zusammen sitzen und ein paar Worte wechseln sollte. Freilich war er der, der Morgens stets am wenigsten zu sagen hatte und sich am raschesten zurück zog. Im Moment hatte er seine Transmitterbrille auf der Nase, las die Nachrichten und löffelte nebenher sein Müsli. Eine Transmitterbrille war kein V-Gear, sie ersetzte lediglich die Sicht durch die entsprechende Anzeige, beließ den Körper aber ansonsten unbeeinträchtigt. Von Zeit zu Zeit machte Dad mit der Linken eine knappe, wischende Bewegung. Er wechselte das Topic in seinen Nachrichten. Dad hatte seinen Kindern stets vermitteln wollen, wie wichtig es war sich auf dem aktuellen Stand zu halten, aber Dan und Eli nahmen sich die Brille jeden Morgen nur kurz um die Rankings und Gewichtungen der Top Ten Games zu checken. Ben, Simon und Sam taten nicht einmal das.
Wenn Dad sich die Transmitterbrille aufsetzte war der offizielle Teil des Frühstücks abgehandelt. Dann konnte jeder tun und lassen, was er wollte. Mum und Simon unterhielten sich auf der anderen Tischseite über Blackstar Online. Sam hatte das Spiel einmal angespielt, aber keinen Gefallen daran gefunden. Adrian beschwerte sich währenddessen über Bens Unzuverlässigkeit. Adrian war der Älteste, der Zuverlässige, immer der Stolz der Greenberg-Eltern gewesen. Und Ben... tja, der war eben Ben. Dad nickte immer wieder einmal um seinem Sohn zu verstehen zu geben, dass er zuhörte, aber war in Wirklichkeit natürlich viel mehr mit seinen Nachrichten beschäftigt. Er hatte diesen Sermon schon zu oft mit anhören müssen. Sam löffelte ihr Müsli allein, schweigend. Missmutig. Missmutig, weil sie sich schon wieder übergangen fühlte. Weil schon wieder alle an nichts anderes dachten als an Effizienz. Es gab Augenblicke, da hasste sie ihre ganze Familie.

"Ich geh zocken!", verkündete sie mit einem mal brüsk, stand auf und ließ die halbvolle Müsli-Schale einfach stehen. "Ist recht, Sammy", rief Mum ihr noch hinterher, doch das war alles. Sam hätte heulen können. Ihre Familie interessierte sich wirklich kein bisschen für sie! Gestern, als sie gesagt hatte, dass sie nicht zocken würde weil sie sich nicht wohl fühlte hatte Mum nur gemeint, dass es ihr ja vielleicht bis zum Abend besser gehen und sie noch ein wenig Zeit dafür finden würde. Was für eine Mutter sagte soetwas, wenn ihre Tochter erzählte, dass sie sich nicht gut fühlte? Sam war dann alleine aus dem Haus und hinaus auf die Terrassen gegangen. Die Wohnblocks von Ebene 10 lagen zum größten Teil innerhalb des Peaks, aber hatten ihre eigenen Terrassen, ein weitläufiges Areal im Freien, wo die Sonne schien und man den Wind spürte. Dort hatte es Sam hingezogen. Licht tanken, nannte sie das. Ohne Sonne verbitterte man auf die Dauer. Sie war ein wenig mit dem Fahrrad die Terrasse entlang gefahren, hatte schließlich eine Weile lang ein paar Jungs beim Basketball spielen zugesehen. Zwei von ihnen hätten ihr im Grunde gefallen, aber sie hatte es natürlich wieder nicht geschafft, jemanden anzusprechen. Eine Weile lang hatte sie erwogen hinüber zu gehen und einfach zu fragen, ob sie sie mitspielen lassen würden. Aber Sam war klein und alles andere als sportlich. Und vor den Jungs hatte sie sich nicht blamieren wollen. Irgendwann hatte es dann angefangen zu regnen und sie war zurück ins Innere des Peaks geflüchtet. Als sie zuhause angekommen war war die komplette Familie natürlich online, also hatte sie alleine zu Abend gegessen und sich dann in ihr Zimmer zurück gezogen und Musik gehört. Gezockt hatte sie aus Trotz nicht. Vielleicht ging es ihr ja bis zum Abend besser und sie fand ein wenig Zeit... vielleicht aber auch nicht! Das hatte Mum jetzt davon! Aber heute, wo sie einmal die brave, folgsame Tochter gab... da fiel die Reaktion auch nicht anders aus. Was musste man in dieser Familie eigentlich anstellen um wenigstens den Funken einer menschlichen Regung aus diesen Effizienz-Zombies heraus zu quetschen? Mum hatte ja nicht einmal gefragt, was sie denn zocken würde! Sam war sich sicher, dass Mum das zur Zeit nicht wusste. Dan und Simon wussten es. Sonst hatte niemand es in den letzten Tagen für nötig befunden, mit ihr zu reden.

Sam hatte sich vor zwei Tagen bei Mithras' Siege Online angemeldet. Aus Protest, wieder einmal. Weil ihre Eltern das für ineffizient hielten. Oder halten würden, wenn sie davon gewusst hätten. Wenn sie sich dafür interessiert hätten. Es war der Tag gewesen, an dem sie entgültig mit The Arts of the Jedi gebrochen hatte. Das Spiel hatte sie frustriert. Ohnehin war es Dad, der gewollt hatte, dass sie es damit versuchte, nicht sie selbst. Ein schlechter Rat war das gewesen. Nicht, dass sie sich dumm angestellt hätte. Nicht, dass sie gestorben wäre. Das Spiel hatte einfach keinen Spaß gemacht. Es war schlecht gemacht. Die Mechanik lag ihr nicht. Sie brauchte einfach etwas anderes. Also hatte sie es kurzerhand mit Mithras' Siege Online probiert. Wirklich viel hatte sie an diesem Abend nicht mehr gezockt. Sie hatte den Charakter erstellt, sich eingeloggt, ihre Fähigkeiten ausprobiert, sich mit der Spielmechanik vertraut gemacht. Die Stadt erforscht, all die wichtigen Orte gesucht: die Händler, die Heiler, die einflussreichen NPCs, von denen man Quests erwarten konnte. Dann hatte sie sich wieder ausgeloggt. Die Stadt Haven war größer als erwartete gewesen und ihre Erforschung hatte bis spät in die Nacht gedauert. Und irgendwann war Sam einfach müde gewesen. Wirklich anfangen würde sie also folglich erst heute können. Sie ging in ihr Zimmer, tauschte die Jeans gegen eine bequemere Jogginghose und stülpte ihr V-Gear über. Ließ sich in ihren Sitzsack fallen und suchte eine bequeme Position. Und connectete. Vor ihr erschien die Figur ihrer Jägerin in der Auswahl. Sie loggte ein. Das letzte, was sie bewusst wahrnahm war, wie ihre Sicht sich rasant auf die violetten Augen der Norin verengte. Dann verschmolz ihr Geist mit Skalai Uramdottir.

"Und Ben hast du dich endlich für eine Klasse in Mithras' Siege Online entschieden?" lautete die Begrüßung seiner Mutter, als er beim alltäglichen Frühstück sah. Seine Eltern hatten Ben dazu gebracht, von seinem alten Mmorpg zu Mithras' Siege Online zu wechseln, da sie wohl hofften, dass er in diesem Spiel mehr Erfolg hatte. Gestern war es dann so weit gewesen und er hatte sich einen Charakter erstellt. Das war seiner Mutter natürlich bekannt, doch welche Klasse genau es war, wusste sie nicht. "Ja habe ich" war Bens kurze Erwiderung auf die Frage. Ungeduldig harkte seine Mutter nach :" Und welche Klasse hast du genommen?" Sollte er jetzt lügen und dadurch einer der unzähligen Standpauken entgehen? Nein, sie würde ihn sowieso auf ihre Kontaktliste nehmen und sehen, dass er gelogen hatte. Außerdem waren die Standpauken nicht wirklich schlimm - nur für Ben. Also schmierte er sich in Ruhe sein Brot und antwortete :" Ich bin Hexenjäger." Fassungslos blickte seine Mutter ihn an. Langsam lief ihr Gesicht rot an. Natürlich war ihr klar gewesen, dass Ben nicht eine der normalen Standardklassen spielen würde. Doch sie hatte gehofft, dass er zumindest etwas ähnliches nehmen würde und nicht so etwas nutzloses wie der Hexenjäger. Nutzlos für ihre Begriffe - Ben selber hatte das Spielen gestern Abend ziemlich Spaß gemacht. Natürlich war ein Dieb zum Beispiel besser, aber Spiele waren da zum Spielen und Spaß haben oder etwa nicht? Sobald die Röte das Gesicht seiner Mutter komplett verdunkelt hatte, würde das Gewitter beginnen. Ruhig blickte sich Ben um. Sein Vater schien nicht da zu sein. Blitzschnell formte sich eine Idee in seinem Kopf. "Also dann Mum, ich geh wieder zocken. Vielleicht erreiche ich dieses Mal sogar etwas" meinte er zu seiner Mutter und grinste frech. Wäre sein Vater dagewesen hätte er sich so etwas nicht erlauben können, doch er war weg und so hatte er einen gewissen Spielraum. Als seine Mutter etwas erwidern wollte, schnappte sich Ben sein beschmiertes Brot und verschwand aus der Küche. Natürlich würde er für diese Aktion nachher die Konsequenzen tragen müssen - doch für das Gesicht seiner Mutter war es das wert.

Kurze Zeit später lag Ben auf seinem Bett. Das Brot hatte er schon gegessen, doch er hatte trotzdem noch Hunger. Doch die Treppe runter und zur Küche zu gehen kam momentan nicht in Frage. Also würde er wohl irgendwie damit zurechtkommen müssen. Er seufzte und starrte die Decke an. Er konnte mit seinem Verhalten nicht lange so weiter machen oder seine Eltern würden ihn rausschmeißen sobald er volljährig war. Also würde Ben versuchen sich auf ein akzeptables Niveau zu spielen. Doch das würde er auf seine ganz eigene Art und Weise versuchen. Nicht als irgendeine der Standardklassen - nein, Ben würde es mit seinem Hexenjäger versuchen. Also nahm er das V-Gear, stülpte den Helm über den Kopf und versuchte auf dem Bett eine gemütliche Lage zu finden. Über Kälte oder ähnliches würde er sich keine Sorgen machen müssen - das V-Gear würde eine Meldung an ihn schicken. Also drückte er auf den Anschaltknopf und die Gläser begannen sich sofort über seine Augen zu legen. Mit einem leisen Summen ging das Gerät an und nach wenigen Sekunden erschien der Einloggbildschirm. Glücklich blickte Ben auf seinen Hexenjäger - Fyrn. Wie er auf diesen Namen gekommen war, wusste er selber nicht, doch er gefiel ihm. Nicht nur der Name gefiel ihm an seinem Avatar, sondern auch die Klasse. "Hexenjäger" hörte sich seiner Meinung nach beeindruckend an und das Gameplay war hervorragend spaßig. Auch wenn das Soloquesten sehr mühsam war, wie er gestern in seiner kurzen Spielzeit festgestellt hatte. Ben hoffte, dass er eine Gruppe finden würde und vielleicht sogar eine der schwereren Gruppenquests erledigen würde. Immerhin gaben diese immer einen Haufen an Gold und Erfahrung, vielleicht sogar ein guten Ausrüstungsgegenstand oder eine Fähigkeit. Nach diesen Gedanken wählte Ben seinen Hexenmeister aus und connectete. Sofort veränderte sich das Bild um ihn herum zu einem Flimmern und nach ein paar Sekunden bildeten sich die Häuser von Haven daraus. Ben mochte das Startgebiet - eine Orkbelagerung, bald würde ein Angriff folgen. Hörte sich doch herrlich an.
"Suche Leute für Quest. Jede Menge Gold und eine gute Belohnung." Durch diese Gruppensuche im Chat wurde sein Gedankengang unterbrochen - und zwar freudig unterbrochen. Genau das wonach er gesucht hatte! Und direkt meldete sich eine erfahrene Fechterin. Hoffentlich würde er auch einen Gruppenslot bekommen, obwohl er unerfahren war mit seiner Klasse. Also schrieb er hoffnungsvoll im Chat :" Ich wäre auch dabei. Gold und Erfahrung, wie könnte ich das nur verpassen?" Jetzt war Abwarten angesagt.

Wenn Blicke töten könnten, wäre Stevens V-Gear schon lange auf dem Müll gelandet. Seit über einer halben Stunde saß er auf dem Bett, dachte nach und starrte mit finsterem Blick auf die Ausrüstung, die das Leben aller in der Stadt beherrschte. Es hing so viel davon ab, ob man Erfolg in den Spielen hatte. Dabei ging es bei diesen Spielen lange nicht mehr um Spaß, hier ging es um die Existenz von Menschen. Wer Pech hatte, konnte von heute auf morgen alles verlieren oder einen großen Glücksgriff tun, andere versauerten ihr Leben lang im Untergrund, während Oberschichtsfamilien seit Generationen ein Dasein im Licht der Sonne führten. Spiele, die Menschen zu Grunde richten konnten… Und wie aufs Stichwort ertönte von nebenan eine Mischung aus Grunzen, Schnarchen und Husten, das nur von seiner Mutter kommen konnte. Oder besser gesagt: dem menschlichen Wrack, das einmal seine Mutter gewesen war. Vor sehr langer Zeit. Mittlerweile sah er sie nur noch als unliebsame Mitbewohnerin, für die er kochen und putzen musste, da sonst die Wohneinheit im Dreck versinken würde. Ob sie jemals wieder zu einer selbstständigen oder wenigstens kommunikationsfähigen Frau werden würde, hing mittlerweile nur noch an ihm. Sollte er Erfolg haben, könnten sie in eine bessere Stadtlage ziehen. Vielleicht gab es ein Heilmittel für Alkoholsucht, er selbst hatte das Zeug nie angerührt – die möglichen Folgen hatte er jeden Tag vor Augen und so wollte er nie enden.

Schlussendlich stülpte er sich das V-Gear über, wählte ein Spiel auf, das ihm ein Kumpel nahegelegt hatte, und legte los. In der Schule hatte er die Grundlagen der virtuellen Welt kennengelernt, so wie jedes andere Kind, doch in seiner Freizeit war er ihr ferngeblieben. Er hatte die Abenteuer der Unterstadt den Abenteuern der künstlichen Umgebung vorgezogen. Aber nun betrat er feindliches Territorium. Bilder prasselten auf ihn ein, Drachen, Monster, Ritter, Städte, wundervolle Landschaften. Dinge, die er nicht einmal beschreiben konnte. Er war überwältigt von der Bildermenge, die allein der Vorspann für ihn bereithielt. Vielleicht war es doch nachvollziehbar, dass sich manche lieber den ganzen Tag in dieser fantastischen Welt aufhielten. Nachdem er sich in die Charaktererstellung vorgekämpft hatte, begann er, sein virtuelles Ebenbild zu erschaffen. Andere mochten sich vielleicht ein komplett neues Aussehen verpassen, vielleicht sogar das andere Geschlecht spielen. Doch er hielt sich an seine Gestalt, sodass beinahe ein virtuelles Spiegelbild von ihm erschaffen wurde. Die Attributsverteilung machte ihm kaum zu schaffen, hatte er doch ein ungefähres Bild von der Klasse, die er haben wollte. Als sein digitales Alter Ego dann endlich das Licht der Welt erblickte, war Steven fasziniert von der Umgebung. Vor ihm brandeten Wellen an einen langen Strand, eine leichte Brise wehte dem Charakter durch die kurzen Haare und der Geruch nach Fisch, Algen und Meer war allgegenwärtig. Steven musste kurz innehalten, um all das zu verdauen. Die Simulationsmechaniken des V-Gear waren gut, aber er hatte nicht gewusst, wie gut. Er musste sich erst einmal mit der Steuerung vertraut machen. Er zog seine Waffen, erst Dolche, dann Schwert, dann warf er eines der Wurfmesser in den Sand. Nachdem er es wieder eingesammelt hatte, sprang er nach vorne. Als er sich wieder aufrappelte, war er positiv überrascht. So weit war er gekommen? Seine Fußspuren hörten ein paar Meter vor ihm auf und begannen direkt unter ihm. Das musste die Engine sein. Anschließend probierte er seine anderen Fähigkeiten durch, schlug mit den Waffen um sich, focht gegen nicht vorhandene Gegner. Für Außenstehende musste er einen blöden Eindruck machen, wie er hier durch die Gegend tollte. Und er war nicht unbeobachtet, wie er feststellte. Direkt hinter ihm erstreckte sich eine Hafenstadt, der erste Questhub, wie ihn einer seiner Freunde genannt hatte. Er musste sich NPCs suchen, also Nicht-Spieler-Charaktere, und für diese Aufgaben erfüllen. So erhielt er bessere Ausrüstung und Waffen, wurde stärker. Kämpfte sich nach oben. Aber vermutlich ließen sich schwierige Aufgaben nur in Gruppen erledigen, aber diese Quests boten natürlich dann auch bessere Belohnungen. Außerdem wäre die Sicherheit einer Gruppe für den Anfang sicher empfehlenswert, er wollte kein schnelles Ende finden. Und das Schicksal schien es gut mit ihm zu meinen, suchte doch bereits jemand nach einer Gruppe. Das bot sich wunderbar an.

„Suche Leute für Quest. Jede Menge Gold und eine gute Belohnung.“
„Bin ein erfahrener Fechter. Könnte das Gold gut gebrauchen.“
„Ich wäre auch dabei. Gold und Erfahrung, wie könnte ich das nur verpassen?“
Verdammt, das ging schnell. Er sollte sich melden, bevor die Gruppe voll war. Oder war das überhaupt möglich? Das würde er schon noch früh genug herausfinden.
„Ein Schwert mehr kann nie schaden, ich wäre auch dabei.“

Entgeistert starrte Oliver den Namen an, der die Nachricht verkündete, eine Fechterin zu sein. Maylin. Was zur Hölle machte sie hier? Er wollte nicht mit ihr reden und sich auch nicht mit ihr treffen, noch immer war ihm die ganze Situation peinlich und wahrscheinlich würde sie sich nur über ihn lustig machen, wenn sie von seiner Lage erfuhr. Vor allem nach seinem idiotischen Tod. Doch die dicht nachfolgenden Nachrichten liessen ihm keine Wahl. Er konnte entweder alle einladen oder sich eine andere Quest suchen. Und wahrscheinlich gab es hier noch so viel mehr Spieler.
"Bin am Hafen, direkt vor dem Schiff. Der Typ mit dem Speer", tippte er als Antwort ein. Hoffentlich tauchte sie einfach nicht auf. Er würde auch mit zwei Leuten etwas hinbekommen. Nun, hoffentlich. Noch einmal rief er das Questlog auf und ging die Sache durch. Sie würden sich ziemlich weit von Haven entfernen müssen und bereits von hier konnte er Riesenkrabben am Strand sehen, entfernt sogar das Klappern ihrer Scheren hören. Es war immer wieder eindrucksvoll, wie wirklich diese ganze Welt wirkte. Und so anders als die, die sie kannten. Auch wenn er immer wusste, dass es nicht echt war, er konnte verstehen, wenn jemand viel Zeit hier verbrachte. Hoffentlich befanden sich auch ein paar von diesen Hardcore-Spielern unter seinen Vielleicht-Gruppenmitglieder. Abgesehen von Maylin natürlich.

Wo war der Hafen? Die Karte hatte natürlich noch nicht geupdatet. Das Ding war sowieso unzuverlässig. Solange man nicht jeden Zentimeter des Geländes abgesucht hatte, womöglich mit einer Lupe, war die Karte pixelig und half bestenfalls beim Navigieren von Kontinent zu Kontinent. Blieb also nur die gute alte Methode. Nach dem Einatmen entschloss sich Maylin das Wort "gut" zu streichen. Die Methode war alt. Genauso wie der Fisch, der hier feilgeboten wurde. Noch ein paar Tage und die Biester würden Füße entwickeln und auf der Landzunge ein eigenes Reich einrichten. Allerdings kam aus der Richtung hinten den Fischständen der subtile Geruch von Salz und trockenem Tang, der in einhundertfünfzig Sprachen "Meer" brüllte.
"Nein, nein danke. Nein, entschuldigung. Entschuldigung!", komplimentierte sich die Elfenfechterin ihren Weg zum Hafen. Auf dem Kai war ihre Frisur durcheinander und ihre Geldbörse weg. Gut zu wissen, dass es immer noch Diebe gab. Hoffentlich erstickte er an den drei Kupferlingen, die da noch drin gewesen waren. Einen Typen mit einem Speer sollte sie also suchen? Konnte ja nicht allzu schwer zu finden sein. Immerhin war der Kai und die Stege ziemlich leer. Trieben sich wohl alle weiter im Stadtinneren rum. Und hier war die Luft schon viel besser. Für einen Moment blieb Maylin stehen und betrachtete das Meer. Von hier sah es ziemlich weit aus. Da hatten die Designer einen guten Job gemacht.
Den Menschen mit dem Speer hatte sie ziemlich rasch gefunden. Der war zwar ein Mensch, aber Oliver konnte er trotzdem nicht sein. Der hatte immer Krieger gespielt. Und da er nun schon abgerutscht war, würde er sich doch wohl auf das besinnen, was er konnte.
"Grüße." Maylin verbeugte sich knapp.

Arthur zuckte unwillkürlich zusammen, als sein Avatar zu Boden ging. Getötet durch einen gegnerischen Banditen. Was für eine Meisterleistung.
Die "Game Over" meldung ploppte auf und er beendete erstmal das Spiel. Erstmal musste er etwas essen und andere Bedürfnisse befriedigen, dann würde er sich einen neuen Charater erstellen. Also ging er erstmal ins Bad und danach in die Küche, wo er sich einmal ein Sandwich zubereitete.
Er war zufrieden mit seinem Leben. Seine Eltern waren nicht sonderlich streng, doch sie hofften schon, das er sie in die Oberste Ebene bringen konnte durch das online spielen. Die Schule hatte er beendet und Arbeiten musste er nicht. Also hatte er genug zeit, sowohl zum Online spielen, als auch mal raus zu gehen und sich zu Amüsieren. Nachdem er sich ausreichend gestärkt hatte, begab sich Arthur wieder in sein Zimmer und setzte sich den V-Gear Helm auf. Er loggte sich ein und wählte Mithras Siege Online aus der Liste seiner Spiele aus. Der Charakterraum sah leer aus. Sein Letzter war erst vor kurzem gestorben. Arthur wählte das Feld Charakter erstellen aus und sah sich erstmal um. Die Elfen gefielen ihm ganz gut. Ein rothaariger Elf mit grünen Augen, das sollte es sein. Als Klasse wählte er den Paladin aus. Nun ging es um die Attribute verteilung. Stärke und ausdauer stellte er recht hoch, den rest verteilte er auch so gut es ging. Zufrieden blickte er seinen Avatar an. Zuletzt noch ein Name. Kurz musste Arthur lächeln, dann sagte er "Alverion." Der name ploppte über dem Avatar auf, nun stand er fertig im Charakterraum. Es konnte losgehen. Nach dem anwählen verschwamm die Landschaft. Er konnte Häuser erkennen und hatte den Geruch von Salzwasser in der Nase. Haven, aha, hier war er also gelandet. Nun gut. Erstmal orientieren. Prompt sah er schon die ersten Nachrichten im Chat. Jemand suchte eine gruppe für eine Quest. Erstmal wollte er sich in Ruhe die Stadt ansehen, da er Haven noch nicht so gut kannte. Es würde sicher noch andere Gruppen geben, die er begleiten konnte.

Mithras' Siege Online war ein Massenprodukt, aber es gab gute Gründe dafür, dass die Massen sich ausgerechnet für dieses Spiel entschieden. Es war - da konnte man fragen wen man wollte - einfach gut gemacht. Nicht allein der Graphik wegen. Eine täuschend realistische Graphik, die man von der realen Welt nicht mehr unterscheiden konnte, hatten die allermeisten Spiele. Es war vielmehr die Liebe zum Detail, die Mithras' Siege Online aus der Masse hervor hob. NPCs am Straßenrand, denen die Sorge wegen der bevorstehenden Invasion ins Gesicht geschrieben stand. Die Beklemmung, die in der Stadt herrschte. All die Figuren, die sichtbar keinem anderen Zweck dienten als dem, die Stadt lebendig erscheinen zu lassen. Eine alte Frau mit Kopftuch, die auf ihrer Türschwelle fegte und sich rasch in ihr Haus zurück zog, als Skalai näher kam. Ein kleiner Junge, der sich abmühte ein dickes Schwein an einem Strick hinter sich her zu zerren und dabei leise vor sich hin fluchte. Man konnte einfach nicht umhin, diese Detailverliebtheit zu genießen. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht, das aus diesen Gründen verständlich, im Anbetracht der momentanen Situation in Haven aber reichlich unpassend erschien, schritt die Nordin durch die Stadt. Ihr Ziel stand fest, schließlich hatte sie sich vorgestern bereits in der Stadt umgesehen. Was sie brauchte war eine Aufgabe, eine Quest. Bei ihrem letzten Rundgang durch Haven hatte sie es nicht gewagt, jemanden deswegen anzusprechen. Was ein Questgeber vorgestern gefordert hatte mochte heute schon nicht mehr aktuell sein. Die Welt war dynamisch, die Aufgaben änderten sich permanent. Wichtig war, was heute getan werden musste.
Skalai hielt auf das befestigte Fort im Zentrum der Stadt zu. Wenn Sam in ihrer Videospielkarriere eines gelernt hatte, dann, dass Militärs immer ein guter Anlaufpunkt waren wenn man nach Aufgaben suchte. Die Tore des Forts standen offen und die beiden Wachmänner, die es flankierten, ließen Skalai widerspruchslos passieren. Sie nickte ihnen freundlich zu, trat hindurch und fand sich in einem Innenhof wieder. Avaritaische Soldaten trainierten mit ihren Waffen, Knechte gingen ihren Beschäftigungen nach, ein paar Hühner pickten auf dem Hof herum und nahmen hastig Reisaus als Skalai ihnen zu nahe kam. Etwas abgelegen, in einem hohen, offenen Pavillion, hatte jemand einen mächtigen Kartentisch aufgebaut. Ein halbes Dutzend Männer hatte sich um diesen versammelt und schien in eine hitzige Diskussion verstrickt zu sein. Skalai hielt auf sie zu. Kurz musterte sie die Gruppe, dann trat sie an denjenigen heran, den sie für den Ranghöchsten hielt, einen untersetzten Mann in geätztem Brustpanzer und langem, schwerem Mantel. "Sir, gibt es etwas, dass ich für euch tun kann?", fragte sie und grüßte militärisch. Sam wusste nicht, wie es in Mithras' Siege Online war, aber in manchen anderen Rollenspielen konnte die Art und Weise, wie man einen NPC ansprach, darüber entscheiden ob dieser einen mit einer Quest versah oder in hohem Bogen aus der Burg warf. Der Mann blickte auf, nahm sie in Augenschein. Er war ein Avaritaer, ein gutes Stück kleiner als sie selbst, sodass er aufblicken musste. Sein fleischiges Kinn war glatt geschoren, die dunklen Haare auf dem Schädel so kurz, dass man es kaum einen Haarschnitt nennen konnte.
"Zieh Leine, Zivilist! Das hier ist kein Spiel, das ist Krieg!", höhnte ein anderer der Männer, ein junger Bursche, der kaum dem Knabenalter entwachsen sein konnte. Der ranghohe Offizier gab ihm einen scharfen Stüber hinter die Ohren. "Halt den Mund wenn man nicht mit dir spricht, Evall", züchtigte er ihn, "Die Götter wissen, dass wir gegen diese Orc-Hunde jedes Schwert und jeden starken Arm brauchen können, die wir bekommen. Ich werde niemanden weg schicken, der bereit ist uns zu helfen!" Skalai atmete leise auf. Das klang, als hätte sie den richtigen Ton gefunden. Der Mann im Brustpanzer blickte sich um. Ein anderer Mann, der bisher hinter ihm gestanden hatte, trat vor. Skalai hatte ihm bisher keine Beachtung geschenkt. Er hatte unscheinbar gewirkt in seiner schlichten, dunklen Tunika, so ganz ohne Rüstzeug, ohne Rangabzeichen. Doch als er hervor trat, hochgewachsen, bärtig, die dunklen, von erstem Silber durchzogenen Haare in den Nacken geworfen, hatte er etwas Herrschaftliches an sich, dass all die Offiziere und Ritter in seinen Schatten stellte. "Ich bin Gouverneur Vardim", stellte er sich vor. Für einen Moment glaubte Skalai, er würde ihr die Hand reichen, doch der Mann blieb kurz vor ihr stehen, wippte auf den Ballen auf und ab. "Meine Aufgabe für euch ist die folgende: geht dort raus in die Wälder und sorgt für Ordnung. Beschützt die Flüchtlinge, die von der Halbinsel zur Stadt strömen! Merzt den Banditenabschaum aus, den die Orcs immer näher zu unseren Mauern treiben und immer dreister werden lassen. Tötet jeden Orc-Späher, dem ihr habhaft werden könnt, lasst keinen entkommen! Diese Monster wollen unsere Verteidigungsanlagen ausspähen, die Götter wissen, wie dürftig sie sind! Die Orcs müssen es nicht auch noch wissen. Bringt Beweise für eure Taten zu meinen Hauptmännern im Feld, sie werden euch für eure Dienste belohnen." Skalai wusste, wie man sich so hohen Herren gegenüber verhielt. "Ich danke euch", erwiderte sie ehrerbietig und verneigte sich so tief, bis sie auf einer Höhe mit dem Gouverneur war. "Wegtreten", entließ er sie knapp und ehe sie sich auch nur wieder voll hatte aufrichten können war die Diskussion rund um den Kartentisch bereits wieder aufs Neue entflammt.
Skalai verließ das Fort, doch noch ehe sie das Tor durchschritten hatte hatte sie eine Nachricht im Stadtchat abgesetzt. "Suche Mitstreiter um Orc-Späher in den Wäldern vor Haven zu jagen." In der Gruppe war es sicherer und effizienter zu questen. Vor allem aber machte es schlichtweg mehr Spaß.

"Bin am Hafen, direkt vor dem Schiff. Der Typ mit dem Speer" lautete die Antwort des Gruppensuchendens im Chat. Eigentlich eine vollkommen ausreichende Beschreibung - immer hin sollten nicht viele Männer mit einem Speer vor einem Schiff stehen hier in Haven - vor allem da der Speer eine nicht gewöhnliche Standardwaffe war, falls Ben sich nicht irrte. Das einzige Problem war: Wo war der Hafen? Ben blickte sich um und versuchte irgendwo das Meer zu entdecken. Zum Glück befand sich Ben auf einer etwas erhöhten Position in Haven und entdeckte dadurch nach kurzer Zeit das Meer. Leider befand es sich genau am anderen Ende des Dorfes. Zum Glück waren Anfängerstädte, beziehungsweise Dörfer, relativ klein. Ben - besser gesagt sein Avatar Fyrn - seufzte und machte sich auf den Weg. Auf den Weg zum Hafen traten ihn mehrere NPC's entgegen, die ihm irgendetwas andrehen wollten - egal ob Ware oder Aufgabe. Freundlich, aber bestimmt, lehnte Fyrn jedesmal aufs neue ab.
Irgendwann - nach einer halben Ewigkeit wie es ihm vorkam, obwohl es nur ein paar Minuten waren - kam Fyrn am Hafen an. Er warf einen Blick aufs Meer. Es war das erste Mal, dass Ben ein Meer ingame sah und er war von der Schönheit erstaunt. Nach ein paar Momenten drehte Fyrn den Kopf und suchte nach einem Mann mit einem Speer. Nur wenig später fand er ihn und bei ihm schien sich auch schon ein anderer Spieler dazugesellt zu haben. Auch Fyrn gesellte sich zu ihnen, grüßte sie mit einem Nicken und einem "Tag" und fragte dann :" Seid ihr die Leute, die sich für die Quest gemeldet haben?"

"Ähm, Hallo..."
Verdammt. Es war wirklich die Maylin. Bis jetzt hatte er noch die Hoffnung gehabt, das es sich einfach um jemanden handelte, der den selben Namen, Titel und die selbe Klasse gewählt hatte, aber nun stand sie vor ihm. Zum Glück brachte ihn das Auftauchen eines weiteren Interessenten darum, irgend ein Gespräch anzufangen. Schnell griff Oliver die Frage des Neuankömmling auf und wedelte währenddessen mit der Hand in der Luft herum, um das Menü, das er eben geschlossen hatte, wiederaufzurufen.
"Klar, ja. Moment. Ich lade euch beide eben in eine Gruppe ein, dann kann ich die Quest auch teilen. Sieht nach einer Langzeitquest aus, wir müssen uns also nciht unbedingt beeilen", sagte er, während er routiniert den entsprechenden Befehl ausführte. Ein Piepen und eine auftauchende Gruppenanfrage vor den beiden anderen Avataren bestätigte seinen Erfolg. "Ist ganz simpel. Wir müssen eine Kette aus einem Schiff in einer Höhle holen, die von einer Seeschlange bewacht wird. aber ich habe gerade mit einer neuen Klasse angefangen, deshalb bin ich wahrscheinlich noch nicht besonders gut. Du", er deutete auf Maylin und versuchte dabei, sich nichts anmerken zu lassen, "hast ja gesagt, du bist erfahren und Fechter, aber was du", er deutete auf den anderen Avatar", bist, sehe ich jetzt nicht gerade."
Da sich noch ein dritter Teilnehmer gemeldet hatte, der aber noch nciht aufgetaucht war, hatten sie sowieso noch Zeit für ein wenig Smalltalk , da konnte er sich gleich noch über die anderen schlau machen.

"Was ich bin? Ich bin ein Hexenjäger" antworte Fyrn auf die Frage seines Gegenübers. Anschließend bestätigte er mit seiner rechten Hand die Gruppenanfrage. "Ich glaube ich werde nicht allzu hilfreich sein gegen die Seeschlange, doch vielleicht findet sich ja ein Monster, welches zaubert, das ich mir vorknüpfen kann" fügte Fyrn mit einem Grinsen hinzu. Links in seinem Sichtfeld tauchte ein kleines Bild von seinem Gegenüber auf. Neben dem Bild stand sein Name - Listener - und unter diesem waren kleine HP- und Manabalken zu sehen. Fyrn blickte auf den schmächtigen Listener vor sich. "Da du ja jetzt unsere Klassen weißt, willst du uns nicht deine verraten?" fragte er ihn. Dann blickte er auf Maylin. Sie war also die erfahrene Fechterin, die sie unterstützen würde - hoffentlich war ihre Hilfe genug um zwei Neulinge mit nicht Standardklassen durch diese Quest zu bringen, dachte Ben mit einem Lächeln im Gesicht.

Haven war recht groß und sehr komplex aufgebaut. Es gab viel zu sehen und so blickte sich Arthur um und versuchte alles in sich aufzusaugen. Dann sah er im Chat eine weitere Gruppenanfrage. Diesmal ging es um einen Kampf gegen Orks.
Hm, warum nicht, dachte sich Arthur und klickte das Chatfenster an. "Ich biete euch meine Klinge an," tippte er und wartete dann ab. Weiter lief er durch die Stadt und genoß die Details und die Npcs, die hier so zahlreich waren.

Da war eine Meldung im Chat. Eine Gruppenanfrage. Nun, das ging ja fix. Aber vermutlich war das schlichtweg der Vorteil an den großen Spielen: je mehr Spieler es gab, desto einfacher fand man eine Gruppe. "Treffpunkt ist das Westtor von Haven", antwortete sie knapp und lenkte ihre Schritte in die Richtung der Wegmarke, die sie spontan auserkoren hatte. Haven hatte, das hatte Skalai gestern bereits festgestellt, drei Tore: eines im Südosten, eines im Westen und eines direkt am Meer, das Hafentor. Um in die Wälder zu gelangen sollte es gleich sein, welches der Tore sie wählten. Die Stadt war - abgesehen von der Küstenseite - von Wald umgeben.
Als Skalai am Tor ankam stellte sie fest, dass sie die erste war, die es erreicht hatte. Sicher, ein paar Leute waren hier schon unterwegs, aber den meisten NPCs sah man an, was sie waren: eine Handvoll einfach gekleideter Leute, die völlig banalen Alltagstätigkeiten nach gingen. Zwei Männer in langen Schuppenhemden, die mit Speeren in den Händen Wache am Tor hielten. Keiner wirkte wie ein Abenteurer, also wie ein Spielercharakter. Das Tor selbst war ein massives hölzernes Gebilde, das sich nahtlos in eine nicht weniger als vier Schritt hohe, solide wirkende Palisade mit hölzernem Wehrgang fügte. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend erklomm Skalai es über einen der beiden hölzernen Steige, die zu beiden Seiten des Torbogens hinaus führten. Türme gab es keine, aber auch so war der Ausblick vom Tor aus beachtlich. Skalai lehnte sich über die Brüstung und ließ den Blick schweifen.

Kurz blickte der Elfenpaladin sich verwirrt um, dann lief er zur nächten Wache und ließ sich den Weg zu dem Tor weisen.
Erleichtert machte er sich auf den Weg dahin. Zwei Wächter standen vor dem Tor aber Spieler konnte er keine erkennen. Also hieß es warten. Er hoffte, das vielleicht noch jemand mit kam. Er wusste ja nicht, wie gut sein Begleiter sein würde.
Mit dem neuen Charakter konnte er jedenfalls noch nicht so wirklich viel. Eine Heil und eine Tankfähigkeit, den rest hatte er in Schaden verteilt.

"Ein Hexenjäger? Noch nie gehört, noch nie gesehen", meinte Oliver als Antwort. Aber gut, er hatte auch eine ziemlich unbekannte Klasse gewählt . "Ich bin ein Wüstenrufer. Nahkampfmagier, so wie's aussieht, aber ich hab meine Fähigkeiten noch nie ausprobiert. Mein letzter Avatar war ein...", er warf einen raschen Blick zu Maylin und stockte kurz, "...Jäger. Aber ich bin schon im Startgebiet gestorben, in den Nordwildbergen, ich bin in eine Wintertrollhöhle geraten und habe mich verirrt. Und dann war ich frustiert und naja..."
Er zuckte mit den Schulter, was sich akkurat auf Listener übertrug.
"Ich hoffe, ich habe keinen Mist gebaut, aber die Fähigkeitenliste sieht auf jeden Fall schon mal nicht schlecht aus. Was kann denn ein Hexenjäger so?"
Das war eine wirklich ungewöhnliche Situation, gleich zwei Neuling ein der Gruppe zu haben. Wobei er spieltechnisch gesehen selbst kein Neuling war, aber er hatte noch keine Ahnung, was er mit seinen Fähigkeiten anstellen sollte. Nun, zumindest Maylin würde das Ding schon schaukeln. Ihr Charakter war so stark ausgerüstet, dass sie eigentlich mit den meisten Feinden hier keine Probleme haben sollte, wenn dieses nicht wieder einmal einen Spass erlaubte und aus irgend einem Loch eine Hydra krabbeln liess oder so was in der Art.

Die Darstellung des Hafens war großartig. Stevens Avatar Corren schlenderte durch die NPCs, auf der Suche nach einem Speerträger. Er sah sich fasziniert von der Szenerie immer wieder um, betrachtete spielende Kinder, die zwischen mürrischen Hafenarbeitern und müffelnden Fischhändlern herumrannten. Möwen kreischten über ihm und zogen ihre Bahnen, Wind und Meer, Menschen und Tiere erschufen eine atemberaubende Atmosphäre für jemanden, der so etwas noch nie gesehen hatte. Der nur die ewigen Betonkorridore, dunklen Unterstadtviertel und muffige abgestandene Luft gewöhnt war. Sah so die Oberfläche aus, bevor die meisten Menschen ins Innere der Erde gezwungen worden waren? Vielleicht.
Endlich sah er einen Speerträger, flankiert von zwei anderen. Eine elegante Elfin und ein hünenhafter Nordin – ja, so hieß diese Rasse – neben einem dunkelhäutigen Wüstenbewohner, wie es aussah. Er hielt direkt auf sie zu, als er sie erreichte, nickte er in die Runde.
„Wie genau funktioniert das Gruppenprinzip in diesem Spiel? Ich bin komplett neu hier, also entschuldigt, wenn ich mich etwas ungeschickt anstellen sollte.“

Ein weiterer Avatar tauchte auf und gesellte sich zu ihnen, der düsteren Kleidung nach zu urteilen irgendetwas Schurkiges. Wieder wischte Oliver vor sich durch die Luft und schickte auch Corren eine Gruppeneinladung. Nachdem diese angenommen war, teilte er noch einmal die Quest.
"Gruppen in MSO sind ziemlich simpel: Man kann einander nicht angreifen, Goldausbeute wird automatisch aufgeteilt und die Items werden vom Gruppenleiter - in diesem Fall mir - aufgesammelt und verteilt. Man hat ausserdem die Leisten der anderen im Interface und es gibt sogar einen Gruppenchat, so eine Art telepathische Verbindung. Die ist aber ziemlich nervig, deshalb braucht man sie immer nur im Kampf, weil niemand andauernd andere ins einem Kopf hören will. Eine Gruppe bleibt auch nach dem Ausloggen bestehen, man kann also zusammenspielen, bis man die Gruppe verlässt. Das wäre eigentlich schon alles", erklärte er so kurz wie möglich. "Ich und", er sah kurz den Namen nach, "Fyrn haben gerade eine neue Klasse angefangen, aber wir sind eigentlich genug, um einige Fehler ausbügeln zu können, bis wir uns eingermassen eingewöhnt haben."
Er rückte den Speer auf seinem Rücken zurecht, schloss das Menü wieder und liess Listener breit grinsen.
"Okay, ich denke, dann können wir los. Wir gehen einfach hier den Strand entlang, das ist, glaub ich, der direkteste Weg."

Dankbar nickte der Diebesavatar dem Speerträger zu. Je mehr Informationen er bekam, desto besser. Und sofort an einigermaßen fähige Leute zu geraten war ein Glücksfall – oder vielleicht auch die Regel in diesem Spiel, konnte auch sein. Und die telepathische Verbindung würde im Gefecht sehr nützlich sein. Steven konnte nur hoffen, dass er sich während des ersten Kampfes nicht total blamierte. Andererseits… Er hatte nichts zu verlieren, diese Leute könnte er nie wieder sehen, wenn er wollte. Ausloggen, einen neuen Charakter erstellen, fertig. Noch hatte er keine Ausrüstung, um die es schade war, sollte er sie verlieren. Und noch war kein Meister vom Himmel gefallen, er würde das Spiel lernen und perfektionieren. Es war wie jede andere Fähigkeit auch. Man musste üben und trainieren, Fehler machen und diese nicht wiederholen. So wurde man zum Meister. Und das würde er schaffen. Mit oder ohne Lehrer.
Kurz rief Steven die Karte auf, die er zu Beginn bereits gesucht und gefunden hatte. Doch zu seinem Pech war die Karte alles andere als genau, sie entsprach der Welt, in der er sich befand. Vergilbt, unscharf und nicht unbedingt korrekt, so wie Karten eben waren vor der technischen Revolution. Er ließ die Karte wieder verschwinden, nickte Listener – ein seltsamer Name für einen Charakter, aber jedem das seine – zu und bestätigte aufs Geratewohl: „Denk‘ ich auch. Wir werden die Höhle schon finden.“ Inzwischen hatte er die Quest im Questlog überflogen und wusste, worum es ungefähr ging. Das sollte nicht zu schwierig werden.

Nach Listeners Erklärung über das Gruppensystem war Ben froh, dass Corren gefragt hatte. Das mit der Telepathie hätte er sonst erst im Kampf bemerkt und dann hätte es ihn wahrscheinlich total verwirrt. So etwas kannte er von anderen Spielen nicht. Doch es gefiel ihm - diese Art der Kommunikation würde vieles vereinfachen. Nach kurzem Überlegen antwortete Ben -beziehungsweise Fyrn- schließlich auf Listeners Frage :" Was ein Hexenjäger kann? Hexen jagen natürlich". Er grinste breit. "Und Buffs zerstören, Mana absaugen und allgemein alles was Mana hat und Zauber benutzt ziemlich auf die Nerven gehen und töten" fügte Ben schließlich hinzu. "Also falls wir gegen Seeschlangen und dieses ganze Meergetier kämpfen werden, werde ich wohl nicht zu nützlich sein". Fyrn zuckte entschuldigend mit seinen Schultern. Doch dann lächelte er und meinte "Ich bin mir sicher, wir packen das auch so! Ist ja immer hin eine Quest für Neulinge, von dem her wirds ja nicht allzu schwer."

Es wäre übertrieben gewesen, von einem überwältigenden Anblick zu sprechen, aber lehrreich war der Blick von den Palisaden hinab nichtsdestotrotz. Haven lag an der Spitze einer Landzunge, wo das Land zum Ufer hin abfiel. Rings um die Mauern her war das Land von nichts weiter als dichtem, kurzem Gras bewachsen, doch folgte man der Straße die sanft ansteigenden Hügel hinauf erreichte man bald die Waldgrenze. Sie konnte keine halbe Meile von den Grenzen der Stadt entfernt sein. Der Wald selbst erschien - soweit man das von hier aus sagen konnte - recht licht, Kiefern überwiegend, dazwischen vereinzelt einige alte, hoch aufragende, ausladende Buchen. Von dichtem Unterholz war wenig zu sehen, doch dieser Eindruck war häufig trügerisch. In jedem Fall war es gut zu wissen, was sie dort draußen erwarten würde. Skalai trat wieder von der Brüstung zurück, wandte den Blick erneut der Stadt zu und entdeckte den Neuankömmling, der ein wenig unsicher wirkend beim Tor stand und sich umsah. Er wirkte nun - ganz im Gegensatz zu den Wachmännern und Dörflern - ganz eindeutig wie ein Abenteurer. Skalai schritt die Stiege hinab, schwang sich, als die Stufen zur Seite hin abbogen, kurzerhand über das niedrige Geländer und landete federnd vor dem Fremden auf dem Boden. Er war ein Elf. "Ich grüße dich", sprach sie ihn an während sie sich wieder zu ihrer vollen Größe aufrichtete und eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht strich, "Bist du hier um mich bei meiner Patroullie in den Wald zu begleiten?"

Ein paar Wochen war Colin jetzt schon mit seinem neuen Charakter unterwegs gewesen, und es gefiel ihm ausgesprochen gut. Zum ersten Mal hatte er eine Noname-Klasse gewählt, gelangweilt von der ewigen Wiederholung der anderen Klassen. Zwar hatte er damit durchaus weniger Chancen im Endgame-Content - aber was scherte ihn der? Bisher hatte er es ohnehin nie geschafft, länger als ein paar Monate zu überleben, gerade genug fürs Mittelfeld. Zum Teil, da war er sich sicher, lag das auch daran, dass die anderen Klassen einfach nicht richtig zu ihm passten.
Mit Leod war das anders. Es fühlte sich viel besser an, als eleganter Magier herumzulaufen, und geistige verbunden mit körperlicher Akrobatik standen ihm auch viel angenehmer als Feuerbälle und Eisblitze. In derartiger Hochstimmung marschierte Leod durch die Straßen von Haven. Er hatte sich gut auf den Angriff der Orks vorbereitet, der in einiger Zeit stattfinden sollte, und er war sich ziemlich sicher, der Herausforderung mehr als gewachsen zu sein. Aber bis dahin blieb noch Zeit. Zeit genug für eine Mission. Leod stieg gerade über eine besonders große Pfütze brackigen Wassers hinweg, in dessen Tiefen wahrscheinlich noch unschönere Dinge trieben, als kurz nacheinander zwei Anfragen für Missionen im Chat erschienen. Nach kurzem Überlegen entschied sich Leod für die letztere. Wenigstens wusste er dabei, woran er war, die erste konnte sich genausogut als eine blöde Sammelmission herausstellen, die einem mächtigen Mentalisten durchaus nicht angemessen war. Nur dass der Inserent nicht gesagt hatte, wo man ihn treffen konnte. Also würde er, logischerweise, bei den Toren vorbeischauen. Zu blöd, dass es davon drei gab. Seufzend sah Leod auf die schlammigen, vielbenutzten Straßen des Städtchens, durch die er sich anscheinend kreuz und quer zu kämpfen haben würde.
Das Glück schien ihm jedoch mehr oder weniger hold zu sein, denn nachdem er sich an tratschenden Weibern und mitten auf der Straße spielenden Kindern vorbeigedrängt hatte sah er oben auf dem Torbogen bereits eine Gestalt sehen, die nur allzusehr nach jemandem aussah, der im Wald Orks jagen gehen würde. Rasch schritt er auf den Bogen zu, als die riesige Jägern auch schon herabsprang und einen weiteren Neuankömmling grüßte und auf eben die Mission ansprach, wegen der er selbst hier war.
"Ich, jedenfalls", mischte er sich ein, "bin genau deswegen hier. Verzeiht die Einmischung."
Mit einer angedeuteten Verbeugung begrüßte er seinerseits die beiden, höflich – nicht nur, weil er gerne auf Spaß und Verständnis in einer Gruppe baute, sondern auch, weil der Spieler hinter Leod auch nichts gegen ein bisschen RP hatte.

Arthurs Avatar blickte die Nordin freundlich an und nickte dann. "So ist es, werte Jägerin." Dann blickte er zu dem Magier und nickte diesem auch zu. "Ich grüße euch." Abwartend blickte er zu den beiden. "Wollt ihr gleich los, oder wollen wir noch auf weitere warten? Und verzeiht meine offenheit, ich habe diesen charakter gerade neu erstellt." Es war besser, dies den anderen mitzuteilen, damit sie bescheid wussten.

Die Gruppe stieg über die südliche Hafenmauer und machte sich am Strand entlang auf in Richtung der Höhle. Die Wirkung der Welt überwältigte Oliver wieder einmal. Es roch nach Salz, Fisch und Sand, unter seinen Sandalen konnte er den Sand spüren, wie er immer wieder ein Stück einsackte. Ein Teil davon gelangte natürlich auch ins Innere seines Schuhwerks. Das kam davon, wenn man Sandalen trug. Er nahm sich vor, sich so schnell wie möglich Stiefel zu besorgen, auch wenn er dabei vielleicht ein wenig Rüstungswert verlieren sollte, was aber eigentlich unwahrscheinlich war bei der miserablen Qualität seiner Ausrüstng. Einer der wenigen Sinne, die Mithras' Siege Online nämlich nicht übertrug, war der Wärmesinn. Man konnte also in fellbepackter Stahlrüstung durch die Wüste rennen, ohne an einem Hitzeschlag zu sterben. Eine der wenigen logischen Überlegungen der Entwickler dieses Spiels.
Ein wenig sehnsüchtig sah er zur Sonne hoch, die momentan hoch am Himmel stand. Auch wenn sie nicht echt war, war sie immer noch besser, als das künstliche Licht in Ebene 1. Was er am meisten vermisste, war nämlich nicht der Komfort eines gewaltigen Hauses und eines weichen Bettes - auch wenn ihm dieser natürlich fehlte - , sondern die Möglichkeit, nach draussen zu gehen, echte Natur zu sehen und die Sonne zu geniessen. Mit einem Mal kam er sich wie ein Idiot vor, so lange gewartet zu haben, wieder mit dem Spiel anzufangen. In Ebene 14 war das ja noch verständlich gewesen, aber MSO war hundertmal besser als dieses verdammte Loch, in dem er jetzt wohnte. Plötzlich konnte er jene Leute von unteren Ebenen verstehen, die so verbissen versucht hatten, so lange wie möglich im Spiel zu bleiben, bis das V-Gear sie nach Dutzenden Warnungen notfallmässig ausloggte. Wer wollte schon zurück, wenn er einmal das hier alles gesehen hatte?
Ihr Weg führte sie an mehreren Riesenkrabben vorbei, doch diese waren neutral, sie griffen erst an, wenn man sie angriff, weshalb sie sie ignorieren konnten. Nach etwa einer Viertelstunde mehr oder weniger schweigsamem Gehen erreichten sie schliesslich ihr Ziel. Vor ihnen erhob sich eine Felswand, die das Ende des Strandes markierten. Im mehr erkannte man mehrere Steinzacken eines Riffes und mehrere Schiffswracks im Wasser. Doch das bewegte Meer signalisierte, dass es keine gute Idee war, einfach hineinzutauchen. Stattdessen wandte Oliver seinen Blick nach oben, wo mehrere Höhleneingänge zu sehen waren. Wahrscheinlich würden sie sich durch diese Kämpfen müssen, denn davor wuselten einige kleine Gestalten herum. Schupplinge, eine primitive Rasse Humanoider, die sich überall an Stränden finden liessen. Sie waren nicht stark, aber oft zahlreich und es gab unter ihnen sogar einige, die rudimentäre Zauber wirken konnten.
"Okay", liess er seinen Avatar verlauten. "Ich schlage vor, wir hauen uns einfach einmal einen Eingang frei und dann sehen wir uns innen um."

"Wenn ihr euch noch zu unsicher fühlt könnt ihr auch hier zurück bleiben", antwortete Skalai nachdem sie auch den zweiten Neuankömmling mit einem Nicken begrüßt hatte, "Die Orks werden früher oder später ohnehin hier aufkreuzen." Sie warf dem Elfen ein wölfisches Grinsen zu. "Ich bin entschlossen, es eher auf später zu verlagern. Aber keine Angst: ich habe nicht vor unnötige Risiken einzugehen. Wenn wir auf zu viele Feinde stoßen ziehen wir uns zurück. Wir werden uns da draußen schon nicht übernehmen..." Sie legte ihren Plan kühl, rational dar während sie eine Sehne auf ihren Kurzbogen aufzog. Für eine Nordin war es ein Kurzbogen. Ein Avaritaer oder Elf hätte ihn schon anders nutzen müssen. "Auf Orks stoßen wir so nahe an den Toren vermutlich ohnehin noch nicht. Oder höchstens auf einzelne Späher. Wir werden es wohl eher mit Banditen zu tun bekommen, die die Grünhäute aufgescheucht haben. Oder mit Wölfen, die sich über die Flüchtlinge her machen..."
Kurz zupfte sie an der Sehne und wandte sich dann der Tor und der aus diesem heraus führenden Straße zu. "Im Laufschritt zum Wald", kommandierte sie und ließ den Charakter, den Bogen lose in der Linken, in raschen Dauerlauf verfallen. Sam behielt ihre Ausdaueranzeige im Blick, darauf bedacht, nur so schnell zu rennen, dass diese sich nicht völlig leerte. Sie wollte nicht völlig wehrlos sein, falls etwas geschah. Aber wirklich spannend würde es ohnehin erst werden wenn sie zwischen den Bäumen waren...