Herz von Ranequia - MSG

"..Wer ist denn schon nicht einsam?", konterte Sanel nach einigen Momenten der Stille.
Er trat wieder zwei Schritte vom Herzen zurück, so dass er sich neben der kindlichen Göttin befand und ganze Sicht auf den Schrein und sein Herzstück haben konnte. Dabei schlang er die Arme dicht um den dünnen Körper und auch die Flügel machten es gleich und schmiegten sich so an seine Schultern wie eine weiche Daunendecke.
"Gerade wir.. Es gehört zu unseren unzähligen Bürden, die Einsamkeit. Es ist eine logische Konsequenz unseres Daseins. Wir bestehen, während sich um uns herum alles wandelt und verändert. Beinahe alles, was wir eins gekannt und geliebt hatten, ist inzwischen nur noch Erinnerung. Und selbst die Erinnerung schwindet im Strom der Zeit. Ich bin.. sehr oft einsam. Es tut weh, aber.. es ist auch gut so, denn es sind doch die Erinnerungen an bessere Zeiten, welche dieses Gefühl in uns erwecken. Ich will diese letzten Erinnerungen nicht auch noch verlieren."
Er verzog unentschlossen das Gesicht, ehe er zu ihr herunterblickte und sich ein halbherziges Lächeln abrang.
"Entschuldige, Shera. Du wirkst deinem Namen schon genug fern, ich sollte nicht so reden."

"Meister Gizo, ich habe die Liste vollständig kopiert", gab Arie Meldung. Die Goblin hatte eine recht schöne Handschrift. Und am Amboss war sie auch zu gebrauchen. Zudem zeigte sie keinerlei Interesse daran mit einem Nervenzusammenbruch nach Hause zu wollen, was an sich betrachtet schon ein kleines Wunder darstellte. In Gizos Schmiede war immer reger Betrieb und der Gott vergaß allzu gerne, dass es Wesen gab, die schlafen mussten.
"Sehr schön. Arie, ich werde für ein paar Tage verreisen. Ich überlasse die Schmiede dir."
Die Goblin bekam große Augen, die im Verlauf des Gesprächs noch größer wurden.
"In Lagerraum vier ist ein ansehnlicher Vorrat an Gold und Ähnlichen Edelmetallen und in Nummer sechs findest du Titanium, falls du Interesse am Waffenschmieden finden solltest. Ich erwarte ein Werk deinerseits."
"Ja, Meister Gizo", hauchte die Goblin und raste davon. Gizo schmunzelte. Sie würde eine gute Schmiedin abgeben. De Gott stiefelte mit der List in der Hand in Richtung des Tempelraums.

Wenig später erschien Gizo im Tempel Nartuuks, sehr zur Überraschung einiger Diener, die damit beschäftigt waren ein Uhrwerk zu reinigen. So oft erschienen die anderen hier wohl nicht. Gizo ignorierte die Fragen der beiden Diener und schritt in Richtung Palast. Nartuuk wusste wenigstens, was gut war. Seine Uhrwerksoldaten waren Meisterwerke für sich. Am Eingangsportal des Palastes stellte sich Gizo einer der Wachen vor und sah zu, während diese davonklickte. In seiner Faust knisterte die pergamentene Liste als er sie ballte. Manche Menschen hatten einfach keinen Anstand.

"Hmm", machte die kleine Göttin lediglich. Einerseits erleichterte es sie, das nach all der Zeit auch der Gott der Leere noch irgendwie menschlich wirkte. Obwohl er nichtmal ein Mensch war. Menschlichkeit... Viola hatte lange überlegt, was das bedeutete. Vor einer langen Weile schon. Sie war zu dem Schluss gekommen, das es in erster Linie Emotionen waren. Einen Gott hatte sie sich früher immer als emotionsloses Wesen vorgestellt und gedacht, irgendwann würden sie alle so enden. Doch dem war offensichtlich nicht so. Doch wie mochte Ranequia zur Menschlichkeit gestanden haben? Wenn sie alle irgendwie nun ein Teil von ihr waren... War sie dann ebenfalls emotional gewesen?
Sie seufzte, dann versuchte sie, ihre Gedanken auf etwas anderes zu lenken.
"Glaubst du, wir bekommen das mit, wenn sich jemand unerlaubt dem Herzen nähert? Ich mein, nur zur Sicherheit, falls das Kaiserreich doch mehr weiß, als es wissen sollte..."
Nun, das war zwar nichts erfreuliches, doch besser, als dieses depressive "Ich werde ewig einsam sein". Und während sie wieder über mögliche neue Helden nachdachte, wurde der Göttin der Freude bewusst, das sie in erster Linie um ihre eigene Bequemlichkeit fürchtete. Außerhalb eines Krieges war es einfacher, Leute glücklich zu machen, als wenn man sie gegen etwas unbesiegbares würde verteidigen müssen.

Es war nicht gerade einfach, die ganzen organisatorischen Dinge unter einen Hut zu bringen. Wer wachte über sein Reich,w enn er nicht da war? Er würde vermutlich einige Tage, wenn nicht Wochen weg sein. Es sein denn, es geschah ein Wunder und das Ganze erledigte sich in wenigen Stunden.
Der Gott seufzte tief und griff gerade zu seiner Schreibfeder, als es klopfte.
Was im Namen der Götter konnte so wichtig sein, dass man ihn hierbei unterbrach?! Er hatte eigentlich noch gar nicht angefangen, doch nun war die Feder bereits voller Tinte und bei der Goldenen Uhr! Ein Tropfen hatte sich von der Feder gelöst und einen unschönen Fleck auf dem faserigen Papier hinterlassen. Damit war es ruiniert! Ruiniert! Wenn er es nicht schaffte, diesen Tropfen als Muster irgendwie zu vertuschen. Doch ein gemustertes Dokument würde niemand ernst nehmen!
Seine Finger krampften sich um den Stiel der Feder, bis dieser mit einem leisen knacken brach. Allerdings nicht exakt in der Mitte, sondern irgendwo im ersten Drittel.
"Was ist?!", keifte der Gott daraufhin die Tür an, während er gleichzeitig aufsprang und die Feder fallen liess, als wäre sie in Gift getränkt.
Zögernd trat die Wache ein.
"Mh ... Meine goldene Herrlichkeit ... Gizo ... Der Gott ... der äh ... Schmied ... Er wünscht Euch zu sprechen."
"Ich verstehe", sagte Nartuuk leicht zerknirscht. Dann setzte er sich langsam in Bewegung. Er schritt an der Wache vorbei und winkte eine Dienerin zu sich.
"Bring mir ein feuchtes Tuch. Sofort!"
Erst als er sich die Hand hatte putzen können, mit der er die falsch zerbrochene Feder angefasst hatte, war er bereit, den Goblin zu empfangen.
"Gizo mein schmiedernder Freund. Was führt dich zu mir?", fragte er mit einer einladenden Geste.

"Ich habe deine Anwesenheit beim Herzen bemerken können, als ich daran gedacht hatte", erwiderte Sanel auf ihre Frage hin. Er setzte sich neben sie, da dieses lange Herumstehen einfach zu erschöpfend war, selbst als Gottheit, die eigentlich gar keine Erschöpfung hätte kennen dürfen. Bei ihm waren wohl alle positiven Aspekte der Göttlichkeit in der Leere verschluckt.
Er streckte die verspannten Glieder, nur um dann wieder in eine schlaffe, äusserst ungesunde Position zu verfallen mit alles anderem als einem geraden Rücken und protzigem Selbstbewusstsein.
"Aber wir spüren unsere gegenseitige Präsenz auch, wenn wir dem Herzen fern sind.. von daher kann ich nicht sagen, ob wir eine uns fremde Präsenz ebenfalls spüren könnten. Wahrscheinlich eher nicht. Aber dafür haben wir diesen Schrein ja von allen anderen abgeschirmt und zu Fuss kommt man hier definitiv nicht ohne weiteres an.."
Obwohl dem Kaiser das egal sein konnte. Wäre er auch wirklich hinter dem Herzen her, er hätte andere geschickt und selbst in seinem Anwesen auf positive Nachrichten gewartet. Dabei hätte er wahrscheinlich süsse Backwaren mit Zucker und Honig gegessen. Hach.. er vermisste diese wunderbar süssen, ungesunden Kalorienbomben. Seine Mutter war eine besonders gute Bäckerin gewesen, wenn er sich richtig daran erinnerte.
"Du kennst dich mit Naschereien aus, Shera, wenn ich mich nicht irre, ja? Gibt es in deinem Reich auch Honigpfunder? Ich glaube, es waren die mit Apfel und Wallnuss als Beigabe, die immer am besten geschmeckt hatten. Zumindest in der heimischen Küche."

Dankbar nahm die kleine Göttin den Themenwechsel an. Insbesondere, da er zu ihrem Lieblingsthema, Leckereien, schwenkte.
"Honigpfunder? Nein, nicht, das ich wüsste. Zumindest habe ich den Namen noch nie gehört. Es kann aber sein, das es das unter anderem Namen gibt. Vielleicht kannst du es mir genauer beschreiben?"
Selbst, wenn es diesen Honigpfunder nicht gab, mit Hilfe von etwas Fantasie würde Viola schon dafür sorgen, das die Westerforster Bürger mal Honigpfunder würden probieren können. Und vielleicht konnte sie Sanel damit ebenfalls eine kleine Freude machen.

"Leider keine angenehmen Dinge, Nartuuk", antwortete Gizo dem anderen Gott, nachdem er eine leichte Verbeugung vollführt hatte. Es konnte nie schaden höflich zu sein, vor allem, wenn man etwas von seinem Gegenüber wollte. Nartuuk war irgendwie sympathisch. Er verstand sich besser auf die feine Mechanik der Uhrwerke als Gizo selbst und ersann Konstrukte, die sich selbst Gizos illustrem Geist entzogen. Als Handwerker waren sie beide auf ihren Gebieten Koryphäen und das konnte Gizo respektieren.
"Ich habe hier eine Liste mit jenen Individuen, die sich dir zur Treue verpflichtet haben, und die mir Entlohnung für meine Dienste schulden. Darunter sind einige hochrangige Mitglieder der städtischen Gesellschaft. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass sie alle bis jetzt ihre Rechnungen bezahlt haben."
Zögerlich überreichte Gizo Nartuuk die Liste mit den Namen. Es waren etwa zwanzig und Gizo war sich alles andere als sicher, ob er das wirklich tun wollte.
"Meine Auszubildende ist zurückgeschickt worden, mit der Bitte noch einmal zurück zu kommen. Dreimal. Auch als ich sie damit drohen ließ, selbst vorbeizukommen. Man ließ mich nicht ein."
Gizo kratzte sich an der Nase.
"Ich bitte nicht gerne um deine Hilfe und ich möchte nicht in deinen Herrschaftsbereich eingreifen, aber ich bin etwas ratlos. Es wundert mich, dass einige meiner treuesten Kunden mir so vor den Kopf stoßen sollten."

Sanel legte die Stirn in Falten und strich eine Haarsträhne aus dem Gesichtsfeld. Er wollte der Göttin bestimmt nichts Falsches erzählen, aber so stark wie die Erinnerung des Geschmackes für einen Augenblick zurück gewesen war, so fern war der Anblick der Köstlichkeit. Deswegen schwieg er eine ganze Weile, blieb beinahe reglos da sitzen und versuchte den Geschmack zurück in seinen Mund und den klebrigen Teig in seine Finger zu kriegen. Es klappte aber leider nicht so gut, wie er es gern gehabt hätte.
"Ich.. es ist schwer zu sagen. Es ist schon so lange her.. Aber.. hm.. Es könnte sein, dass ich noch irgendwo ein Rezept aufbewahrt habe, falls dir das weiterhilft. Ich habe einige Rezepte aufbewahrt, ich bin einfach selbst leider kein sonderliches Talent darin. Also.. Kochrezepte, ich rede von Kochrezepten, nicht Arztrezepten. Solche habe ich auch, aber die würden dir wohl kaum dienlich sein."
Er blickte wieder hoch zum Herz, beinahe qualvoll.
"Ich bin leider nur in sehr wenigen Bereichen talentiert. Und nicht einmal in diesen sehr effektiv in letzter Zeit.. Es ist ironisch, immerhin haben gerade wir so viel Zeit, uns zu bilden, aber.."
Er wusste nicht weiter und liess den Satz deshalb unvollendet im Raum verhallen. Er war kein guter Sprecher. Es war vielleicht besser, wenn die Göttin der Freude etwas erzählte.

Nartuuk ergriff die Rolle, wobei er pikiert feststellen musste, dass sie ziemlich zerknittert war. Er versuchte den Umstand zu ignorieren, dass die Knitterfalten natürlich ein wildes Muster ergaben, ohne auch nur den Hauch einer Regelmässigkeit.
"Hm ... Interessant", sagte er dann erst einmal. Auch das noch. Als hätte er nicht sowieso schon genug zu tun!
"Ich werde mich selbstverständlich darum kümmern, dass du deinen Lohn mit Zinsen und Zinsenszinsen erhältst... Tut mir leid, dass meine Leute dir derartige Umstände machen. Und dann auch noch so viele auf einmal..."

"Mit deiner Erlaubnis würde ich ihnen gerne einen persönlichen Besuch abstatten", hakte Gizo noch nach. Er musste hier ohnehin noch ein paar Dinge einkaufen. Zum Beispiel hatte hier jemand einen Blasebalg entwickelt, der sich selbst per Uhrwerk antrieb. Der würde Gizo und seiner Auszubildenden eine Menge Arbeit ersparen und auf lange Sicht sparte man an Kohlen. Dazu kamen einige Linsen, die er für die Bestellung eines elaborierten Fernglases brauchte. Und diese ganze unangenehme Angelegenheit hatte schon viel zu viel seiner Zeit und seiner Nerven beansprucht.
"Keine Sorge, ich habe nicht vor ein Drama zu verursachen. Es wäre mir nur unangenehm, wenn dem Adel dieser Stadt durch mich ein Schaden entstände."

"Wenn du das Rezept findest, bring es ruhig vorbei. Ich werde es meinen Köchen bringen, damit sie es einmal zubereiten können."
Viola lächelte in dem Versuch, den anderne Gott aufzumuntern. Dann fiel ihr plötzlich etwas ein.
"Sag mal... Unsere Fähigkeiten können den anderen Göttern nichts anhaben. Aber wie sieht das mit von Göttern geschaffenen Dingen aus? Also, nicht, wenn du jetzt einen Stuhl bauen würdest, sondern wenn ich etwas mit meiner Fähigkeit erschaffe? Würde deine Fähigkeit darauf den gleichen Effekt haben, wie auf andere Dinge?"
Falls dem nicht so wäre, die von ihr erschaffenen Gegenstände also resistent gegen seine Fähigkeit waren, könnte sie ihm vielleicht ein wenig helfen...

Nartuuk legte den Kopf schief und musterte seinen göttlichen Gefährten einen Moment lang schweigend. Dann reichte er ihm die Liste zurück.
"natürlich. Ich will dir diesen Wunsch nicht abschlagen", sagte er. "Fühl dich frei ..."
Nun, er war nicht unglücklich darüber. So musste er sich nicht darum kümmern und hatte wieder mehr Zeit, um sich um das zu kümmern, worum er sich zuvor kümmern wollte.

Auch diesmal überlegte er erst ein wenig und rückte dann erst einmal in eine andere Position, wobei er mit den Fingern gedankenverloren über seinen neuen Anhänger strich.
"Das ist.. schwer zu sagen", entgegnete er dann auf Violas Frage hin. "Das hängt wohl ganz davon ab, ob die Objekte selbst die Magie inne behalten, oder lediglich indirekt magisch wirken. Ich meine damit, würdest du deine Kräfte bündeln und damit beispielsweise einen Zauber über etwas legen, der selbst aus deinen Kräften gespiesen wird, dann würde das wohl bestimmt keinen weiteren Effekt von ausserhalb haben können. Die Portale funktionieren schliesslich auch so. Wenn deine Fähigkeit jedoch lediglich einer Beschwörung gleichkommen, die beschworenen Gegenstände aber selbst keiner magischen Natur sind.. dann wird es wohl so sein, dass sie immer noch in den Einfluss anderer Quellen kommen können. Nur weil du etwas lenkst, veränderst du seine Natur nicht zwangsläufig."
Zumindest glaubte er, dass so die Theorie war. Inwiefern das aber auf ihre Kräfte zutraf, konnte er nicht wirklich beurteilen. Dafür kannte er sie zu wenig. Jemand wie Zurana hätte das bestimmt genauer bestimmen können.

"Hmm", machte sie. "Ich weiß nicht genau, wie die Dinge entstehen. Aber ich kann alles herbeizaubern, was ich mir vorstellen kann."
Langsam schien unter der Fasade des Erwachsenseins wieder das Kind hervorzukommen, das sie doch eigentlich immernoch war.
"Sieh her!" Mit diesen Worten ließ das Mädchen auf ihrer Hand ein Bonbon entstehen, das so in Form und Farbe wohl noch nie existiert hatte. Es war ein Stern, spitz und gleichmäßig, wie es wohl kaum jemand hinbekommen hätte, von violetter Farbe. Würde sie es essen, so wäre es unglaublich süß und trüge den Geschmack von Kirschen. "Willst du es probieren?"
Wie ein Kind, das etwas erschaffen hatte, worauf es stolz war, bot sie das Ding Sanel an. Ganz offensichtlich dachte sie nicht daran, das sich jemand an den Spitzen dieser Süßigkeit verletzen könnte.

Auch wenn er sich sicher war, dass die kleine Göttin bestimmt keine schlechte Absichten haben mochte, so wirkte Sanel dennoch ein wenig skeptisch, als er sich über die Süssigkeit beugte, um sie genauer zu betrachten. Seiner Meinung nach sah es aus wie ein viel zu perfekt geschliffener, reiner Edelstein und nicht unbedingt etwas essbares. Aber da er sie nicht enttäuschen wollte, pflückte er ihr die Süssigkeit dennoch vorsichtig mit zwei Fingern aus den Händen. Aha, doch kein Edelstein, dazu war es viel zu klebrig und leicht.
"Wie interessant. Mit solch einer Fähigkeit kannst du bestimmt sehr vielen Leuten dienlich sein."
Er roch nun auch kurz an dem Ding, aber er konnte nicht wirklich etwas feststellen. Hübsch anzusehen war es, ja, aber ob es auch wirklich schmecken konnte und vor allem ihm auch schmecken würde?

Viola lachte. Nun, eigentlich war es mehr ein Kichern. Ein sehr kindliches Kichern.
"Jaa! Oh, du glaubst gar nicht, was ich alles machen kann! Aber es ist soooo anstrengend, wenn alle was von einem wollen... Daher mache ich das nicht für jeden."
Sie nickte heftige, um ihre Aussage zu bekräftigen. Dann sah sie den Gott der Leere erwartungs voll an.
"Iss! Probier es! Ich bin gespannt, wie es dir schmeckt."
Ihr Gesicht verfinsterte sich ein wenig.
"Und wehe du lügst mich an!"
Dann lachte sie wieder. Das unschuldige Lachen eines Kindes.

Violas unbekümmerte Laune rang auch ihm kurz ein schiefes Lächeln ab. Es war ja doch irgendwie schön zu sehen, dass sie trotz der damaligen Ereignisse - und trotz ihres vorher eher düsteren Gesprächs - auch manchmal einfach nur ein Kind sein konnte, das sich an so kleinen Dingen erfreute.
"Ich werde gewiss nicht lügen", versprach er und nach weiterem knappen Zögern steckte er es sich dann tatsächlich in den Mund. Kaum hatte er den Mund zu, merkte er, dass die doch recht grosse Süssigkeit ziemlich ins Zahnfleisch stechen konnte. Dann kam ihm vor allem in den Sinn, wie oft er gerade jungen Leuten - meistens aus höheren Schichten - erklärt hatte, wieso sie nicht zu viel naschen sollten, denn die Süssigkeit war vor allem eines: So unglaublich süss, dass man sie als Reaktion gleich wieder erst mal rausgespuckt hätte wollen, wenn sie nicht so an Zunge und Gaumen geklebt hätte. Süsser als jeglicher Zucker und irgendwas fruchtiges, auch wenn er das nicht genau bestimmen konnte. Wie konnte etwas so süss sein und wenn es schon für ihn so süss war, wie schmeckte es dann erst für andere? Oder schmeckte es eben gerade deswegen so intensiv, weil er es vielleicht wirklich nicht neutralisieren konnte?
Wenn Sanel sich noch an einen Lehrspruch aus seiner Kindheit besonders gut erinnern konnte, dann war es der, dass man nicht mit vollem Mund reden sollte. Deswegen konnte er nur eine unklare Geste mit den Händen machen, während sein Gesicht eine Grimasse war. Eine Kreuzung aus 'Mein Mund ist zu voll und ich kann nicht schlucken' und 'Was bei der Hölle ist das und soll ich es begrüssen oder verteufeln?'.
Er hätte vielleicht lieber nur kurz daran lecken sollen.
Glücklicherweise hielt die Wirkung nur relativ kurz an. Die Intensivität von Geschmack und Form - wie überwältigend sie auch erst gewesen war - zerfiel nach einigen Momenten Stück für Stück und der perfekte Stern wurde zu einer unförmigen Sauce, die Süsse zärter und die Farbe wahrscheinlich auch schwächer. Sanel schluckte und ein Teil von ihm war froh darum, dieses ungewohnte Etwas los zu werden, ein anderer Teil fand es gleichzeitig jedoch unglaublich schade. Erst sass er da nur mit diesem inneren Zwiespalt. Eigentlich hätte es ihn freuen müssen, denn gerade solche Dinge andauernd ausser Reichweite zu haben, war doch einer der Gründe, die ihn so belasteten. Aber mit diesem Rückblick in andere Zeiten kam auch die Erinnerung daran, dass einst alles so frisch und bunt und schön gewesen war und mit ihr kam auch der Rest und..
Er räusperte sich, schon nur um zu prüfen, dass sein Hals wirklich frei von Klebstoff war, und wischte die Finger an seinem Hemd ab.
"Was soll ich dazu sagen? Es war.. ungewohnt. Speziell? Auf jeden Fall sehr.. klebrig und süss."
Süss und klebrig waren doch die Eigenschaften, die Leckereien haben mussten, so weit er wusste. Also hatte er damit sicher nichts Falsches gesagt.

Mit einer Verbeugung verabschiedete sich Gizo von Nartuuk. Der Gott war mindestens ebenso viel beschäftigt wie er selbst. Da musste man seine Zeit nicht weiter strapazieren als unbedingt notwendig. Als Gott der Uhren mochte Nartuuk verschwendete Zeit wahrscheinlich noch viel weniger. Seltsam spezifisches Feld war das, was der andere da erhalten hatte. Jagd und Schmiedekunst waren Dinge, die schön weit verbreitet waren. Jedes Volk fing früh mit beidem an. Mit der Jagd fingen sie noch vor der Schmiedekunst an, aber Uhrwerke? Andererseits tat Nartuuk sein Möglichstes, um den Menschen die Schönheit dieser Mechanismen näher zu bringen.
Mit diesen und anderen Gedanken vertrieb sich Gizo die Zeit, während er zu der ersten Adresse auf seiner Liste schlenderte. Unterwegs bestellte er einen der mechanischen Blasebalge zum testen und holte die geschliffenen Linsen ab.
Summend klopfte Gizo am Vordereingang der luxuriösen Villa an. Der Goblin war einigermaßen erfreut als er sofort eingelassen wurde. Weniger erfreut war er, als man ihm hinter der Türe mit einem Stahlbolzen in den Kopf schoss.
"Verdaaaaargh!"

Das Herz Ranequinas pulsierte. Pure Magie sammelte sich an der Oberfläche und tropfte davon herunter, wo sie einen amorphen Klumpen bildete. Der Klumpen gab einige Schmerzenslaute von sich, formte sich dann zu der steinernen Statue eines Goblins, Schmiedehammer in der einen Feuerzange in der anderen Hand. Glühende Risse rasten über die Oberfläche, vernetzten sich wie das Netz einer enthusiastischen Spinne. Mit einem Donnergrollen fegte es die steinerne Haut weg und Gizo blieb übrig. Flammen tropften von seinem Schmiedehammer und feine Linien glühender Magma durchzogen einen seiner Arme. Die Augen lagen im Gesicht wie schwelende Kohlen.
"ammt?", beendete Gizo seine Frage. Nach einigen hektischen Blicken nach rechts und links war klar, dass keine weitere Gefahr bestand. Die Gestalt Gizos fiel in sich zusammen. Nun wieder in seiner normalen Gestalt gab Gizo ein beinahe animalisches Knurren von sich. Was bei allen Niederhöllen war das denn grade gewesen? Warum sollte man ihn erschießen?

Das Grinsen, das Sanels Antwort bei ihr ausgelöst hatte, erstarb, als Gizo auf unverwechselbare Art und Weise beim Herzen erschien. Völlig erschüttert starrte Viola den Goblin an.
"Was ist passiert?", fragte sie besorgt. Nicht, das sein Schicksal sie irgendwie berührt hätte, dafür kannte sie ihn bei weitem nicht gut genug, doch was auch immer ihm geschehen war, konnte unter Umständen auch jedem anderen Gott passieren. Also auch IHR.

Auch Sanel konnte den Blick kaum von Gizo und vor allem der Art, wie Gizo erschien, abwenden. Der Arzt, der noch immer irgendwo in ihm war, wäre am liebsten gleich aufgesprungen und zu ihm geeilt, um sich um seine Gesundheit zu vergewissern. Doch die hart eingeschlichene Lethargie und das Wissen, dass Götter sowieso nicht dauerhaft verletzt werden konnten, verhinderte dies. War er nicht hergekommen, weil er sich Sorgen gemacht hatte, dass jemand unfreiwillig beim Herzen erschienen war? Was für eine grausame Vorahnung.
"Gizo! Welch.. ungewöhnliche Art, uns hier zu besuchen..?"
Der Goblin sah gar nicht erfreut aus. Also war er entweder mit Gewalt hierher gebracht.. oder er hatte sich in die Vulkantiefen gestürzt in der Hoffnung, gar nicht wieder erst aufzutauchen. Wobei letzteres eher unwahrscheinlich war. Seine neue Gehilfin hatte alles andere als dermassen unfähig und nervtötend ausgesehen.

"Oh. Es tut mir leid. Ich wollte euch nicht erschrecken", hob Gizo hastig an, dem die anderen beiden Götter soeben erst aufgefallen waren. Es war nicht das erste mal, dass er "gestorben" war. Der Prozess war nicht einmal als unangenehm zu bezeichnen, man bekam so wenig davon mit. Gizo legte eine Hand auf die Ketten, die das Herz hielten und murmelte ein leises "Danke" in dessen Richtung.
"Anscheinend wurde ich umgebracht. Zumindest glaube ich das, es war so dunkel. Da ließ sich kaum etwas erkennen. Ah, macht euch keine Sorgen. Ich bin mir sicher, das war ein Versehen. Niemand hat einen Nutzen davon jemanden von uns zu töten."

"Umgebracht?", wiederholte Sanel und Falten, tiefer und furchiger als das Gebirge, das Gizo seine Heimat nannte, bildeten sich auf seiner Stirn. Gizo sagte zwar, sie sollen sich keine Sorgen machen, aber.. wie konnte er denn anders, als sich da Sorgen machen? Schon sehr lange war kein Mordversuch mehr gegen sie ausgeführt worden und gerade jetzt war so etwas sehr, sehr beunruhigend.
"Bist du dir sicher? Ich glaube kaum, dass man aus versehen jemanden so schnell umbringt. Oder.. Wie ist es denn überhaupt geschehen?"
Es gab viele Arten, zu sterben. Einige funktionieren bei ihnen schon gar nicht mehr, aber dennoch waren es noch genügende, die sie hierher brachten.

"Schwer zu sagen. Es ist alles sehr schnell gegangen. Da war irgendein Geräusch einer Mechanik, aber das ist in der Stadt der Uhren nichts verwunderliches, nicht wahr? Und es war dunkel. Da war ein Diener...", schwoff Gizo ab. Es war kaum vorstellbar, dass man ihn mit Absicht hatte umbringen wollen. Vor allem nicht, wenn der Grund Geld war über das sich verhandeln ließ. Mit einigem Stolz blickte Gizo darauf zurück, dass er noch nie einen seiner Kunden über die Maße Geld abgesprochen hatte.
"Neinein. Macht euch keine Sorgen. Ich bin mir sicher, dass es ein Versehen war. Immerhin wissen die meisten Leute, dass man uns nicht so einfach töten kann. Ich sollte zu Nartuuk zurückkehren. Die Stadt der Uhren ist sein Hoheitsgebiet."

"Wer bringt bitte aus Versehen Leute um?" Mit einer grüblerischen Miene starrte Viola den Goblin an, ohne ihn dabei wirklich zu sehen. "Vor allem einen Gott und noch dazu in so einer Situation... Ich weiß nicht, ich habe das Gefühl, das sich etwas großes anbahnt..."
Sie blinzelte und sah erst Gizo, dann Sanel an.
"Zurana hat mir von Getreide erzählt, das plötzlich zu faulen angefangen haben soll, einfach so. Und auf einen meiner Seidenfarmer hat es einen Anschlag gegeben. Das Kaiserreich hat um eine Audienz bei allen Göttern gebeten, weil sie das Herz untersuchen wollen. Und jetzt tauchst du hier auf, aus Versehen getötet...?"
Man konnte der Göttin anhören, das sie der Sache skeptisch gegenüber stand. Doch gleichzeitig fragte sie sich auch, ob das nicht alles dumme Zufälle waren...

Sanel seufzte kläglich auf und fasste sich an die Schläfen, um diese ein wenig zu massieren.
"Das sind wirklich sehr viele Versehen auf einmal. Ich weiss ja nicht, aber vielleicht sind wir tatsächlich allesamt zu lange einfach.. ruhig gewesen? Zu zurückgezogen? Wir sehen uns ja kaum, obwohl wir eins eine Gemeinschaft waren."
Mehr oder weniger. Es gab da ja so einige.. Spezialfälle. Aber das war ein anderes Thema.
"Wenn das so weitergeht, dann müssen wir wohl oder übel noch einmal eine private Zusammenkunft einberufen. Und es wäre sicher auch keine schlechte IDee, wenn du nicht alleine an diesen Ort der Tat, ob Ungeschick oder Verbrechen, zurückkehrst. I-ich will nicht deine Fähigkeiten in Frage stellen, auf keinen Fall. Aber diese Sache ist doch zu auffällig, um sie kommentarlos zu ignorieren, da hat Shera schon recht. Wir sollten gemeinsam zu Nartuuk gehen. ..So wie wir ihn alle kennen, wird es ihn nicht freuen, aber raushalten wird er sich dennoch kaum."
Er atmete tief durch und umklammerte seinen neuen Glücksbringer. Eigentlich fühlte er sich nach den ganzen Geschehnissen, der Zusammenkunft, dem Gespräch mit Shera und diesen neuen, abstrusen Dingen, unglaublich schwer und am liebsten hätte er sich zuhause in einer Ecke verkrochen und sich ein Jahr lang nicht mehr blicken lassen. Aber das ging jetzt einfach nicht. Vielleicht waren sie alle mit der Zeit einfach nur paranoid geworden und wenn sich alles als Zufälle ohne Zusammenhang herausstellte, dann konnte er immer noch lange, lange in Ruhe gehen. Aber solange es auch doch etwas Ernsteres sein mochte, so lange mussten sie sich alle zusammenreissen und Taten Worten vorziehen. So war es auch damals vor ihrer Entdeckung des Herzens gewesen. Der metallene Anhänger schien es ihm förmlich zuzuflüstern. All diese noblen und treuen Vorsätze, die sein Volk einst gehabt hatte. Sie durften keine Enttäuschung sein.