[MSG] Die Welt Lonais

Karanik - die wohl einzige Stadt auf ganz Lonais, in dem man eine derartige Vielfalt an Bewohnern hatte. Neben den Lonaisern fand man hier auch die Sarvelger, die alle mehr oder weniger friedlich nebeneinander leben. Doch nur so lange, wie die Lonaiser tun, was die Sarvelger erwarten. Karanik ist eine Handelsstadt. Viele Lonaiser kommen hier her, um ihre Waren zu verkaufen oder um die Waren anderer zu kaufen. Die Straßen sind trotz der Sarvelger brechend voll und die Geschäfte laufen gut, auch wenn der Zoll an der Stadtgrenze nicht gerade gering ist.
Die Zustände waren wie immer und keiner der vielen Bewohner, Besetzer, Händler und Besucher rechnete damit, das an diesem Ort eine Legende beginnen würde...

Karanik war unglaublich! Es war so ganz anders als alles, was Jitaj in ihrem bisherigen Leben gesehen hatte. Größer, lauter, bunter. Und irgendwie... fremdartig. Sicher, es war nicht so, dass Jitaj bisher nie aus dem Dorf heraus gekommen wäre, aber eben... nicht so. Sie kannte vor allem den Wald. Sie war einmal ein paar Tage in den Bergen unterwegs gewesen. Und sie hatte einige andere Dörfer gesehen. Aber sie war noch nie in der Stadt gewesen. Sie wusste nicht, dass es so große Häuser gab, so enge, finstere Straßenschluchten. Und so viele Leute! Sie drängten sich in den Straßen, sie lärmten, sie stanken und sie wirkten so furchtbar fremdartig auf die junge Madra. Sie kannte die Chatagaren, wenngleich sie sie nur flüchtig ein paar mal gesehen hatte. Von den Natrachen hingegen hatte sie bisher nur gehört. Und dann waren da noch die... nun, die... im Stillen nannte Jitaj sie die anderen. Gelegentlich hatte man sie auch im Dorf gesehen, doch dann hatten die Ältesten stets dafür gesorgt, dass die Kinder in den Hütten waren und die Fremden sie nicht zu Gesicht bekamen. Die Fremden kamen alle paar Mondzyklen und verlangten Tribut, den das Dorf widerwillig entrichtete. Widerwillig, denn die Fremden waren keine Bewohner von Lonais. Sie waren auffällig. Man sah ihnen sofort an, dass sie nicht hier her gehörten. Sie hüllten sich über und über in Eisen, sie ritten auf den rücken großer, fremdartiger Tiere und sie blickten allesamt so furchtbar grimmig auf Jitaj, dass sie es - ohnehin schon eingeschüchtert von den enormen Ausmaßen der Stadt - regelrecht mit der Angst zu tun bekam. Instinktiv zog sie den Kopf zwischen den Schultern ein und hielt sich näher bei Ras.
Ras war die einzige Konstante in all diesen neuen, verängstigenden Eindrücken. Er war ein Madrai wie sie, er war einer aus ihrem Rudel. Ras war ein paar Jahre älter als Jitaj und so hatte sie nie viel mit ihm zu tun gehabt, aber sie kannte ihn. Jeder kannte jeden im Rudel. Eigentlich war es Ras, den die Ältesten ausgeschickt hatten, hierher, nach Karanik. Um Eisenwaren einzukaufen. Eisen gab es im Dorf nur wenig, aber ab und an brauchte man eben Dinge aus Eisen, Haken und Nägel und Pfeilspitzen und ab und an einen neuen Topf oder einen Rost für die Räucherkammer. Ras hatte von den Ältesten einen Beutel voll Münzen bekommen um all diese Dinge hier in der Stadt einzukaufen und Jitaj war mit geschickt worden, weil niemand alleine reisen sollte. Warum ausgerechnet sie, das wusste sie nicht so genau, aber ihr Meister hatte sich jedenfalls sehr dafür eingesetzt, dass sie auf Wanderschaft gehen sollte. Er hatte auf die anderen Ältesten eingeredet und schließlich hatten sie zugestimmt, dass Jitaj Ras begleiten sollte. Das war vor mehr als einem halben Mondzyklus gewesen. Das Dorf des Rudels lag abgeschieden, weit weg von der nächsten größeren Stadt. Von Karanik. Aber nun waren sie hier. Und Jitaj wusste nicht, ob sie so recht glücklich darüber sein sollte. Karanik gefiel ihr nicht wirklich.
"Hast du die Zwerge da vorne bei dem Brunnen gesehen?", fragte sie Ras leise, scheu, "Die haben richtig grimmig drein geschaut und hatten alle die Hände an ihren Beilen. Warum, glaubst du, waren die so schlecht drauf...?"

Ariena zog ebenfalls durch die Strassen von Karanik, mit ihrem jüngeren Bruder Kovu im Schlepptau und jeder mit einem Bündel Leder auf dem Rücken, den sie hier hoffentlich zu einem guten Preis verkaufen konnten. Im Gegensatz zu ihrem Bruder war sie nicht zum ersten Mal in einer Stadt, doch sie konnte sich noch gut daran erinnernd, wie sie über praktisch alles gestaunt hatte und von allem fasziniert gewesen war. Mehrmals musste sie Kovu fast schon weiterziehen. Durch sein schwarzes Fell viel er auf, selbst in einer so durchmischten Stadt wie dieser hier. Ariena lächelte, es war jedes Mal ein Erlebnis und eine Abwechslung in einer grossen Stadt zu sein. Trotzdem wollte sie nicht auf das Leben in der Savanne verzichten, dazu liebte es sie zu sehr und ausserdem hatte man dort noch wirklich das Gefühl frei zu sein. Hier in der Stadt wurde man praktisch immer daran erinnert, dass man unter der Zwangsherrschaft der Sarvelger stand. Schon beim Betreten der Stadt zwängten sie einem ihre Regeln auf, verlangten das Sie ihre Waffen abgaben und Zoll bezahlten. Ariena hatte knurrend bezahlt, aber immerhin hatte sie ihre Dolche nicht gefunden, sie war also nicht ganz wehrlos.

Die ganze Zeit über, seit sie Karanik betreten hatten, war kein einziges Wort von Ras gekommen, denn jedes winzige Detail in dieser Umgebung erinnerte ihn daran, daß sie sich hier in einer Sarvelgerstadt befanden. Die hohen steinernen Häuser, die engen Straßen, und vor allem die Sarvelger selbst! Entsprechend finster war seine Miene, die er schon die ganze Zeit auf setzte. Und auch seine Antwort auf Jitais Frage paßte gut zu seiner Stimmung.
"Weil sie Abschaum sind, deshalb!" knurrte er, und seine Stimme klang dabei ruppiger, als er beabsichtigte. Er warf seiner Begleiterin einen entschuldigenden Blick zu. Auch wenn sie noch ein Kind war, sah er keinen Grund, sie herablassend zu behandeln. "Versteh einer, was in den Köpfen der Fell-losen vor geht!" fügte er angewidert hinzu. Genau genommen hätte dieses Schimpfwort auch auf die Natrachen gepaßt, aber Ras kannte es nur in Bezug auf die Sarvelger.

Es war keine wirklich zufriedenstellende Antwort, aber Jitaj gehörte trotz ihrer Neugierde nicht zu jenen, die bei solchen Dingen weiter nach hakten. Ras war älter als sie, Ras war erfahrener, also würde er schon recht haben. Und irgendwie passte es ja auch zu allem, was sie selbst so über die Fremden wusste. Sie waren grausam und unbarmherzig, neigten zur Brutalität und lebten ein Leben in Saus' und Braus' auf Kosten jener, die sich gegen ihre überlegenen Waffen und ihre schiere Zahl nicht zur Wehr setzen konnten. Das war es jedenfalls, was man im Dorf über sie erzählte. Jitaj hatte noch keine Gelegenheit gehabt, dem selbst auf den Grund zu gehen, doch sie hatte keinen Grund, den Erzählungen nicht zu glauben. Und das, was sie hier sah, bestätigte schließlich, was man so über die Sarvelgen sagte. Schweigend folgte sie Ras weiter, als plötzlich ein Schrei vom anderen Ende der Straße her ihre Aufmerksamkeit erregte. Augenblicklich schnellten ihre bis eben noch träge herab hängenden Ohren in Hab-Acht-Stellung und ihr Blick huschte umher, forschte nach der Quelle des Geräuschs. Sie musste nicht lange suchen. Wenige Augenblicke später bereits sah sie, wie die Leute hastig zur Seite sprangen und eine Gasse frei machten, durch die ein um die Biegung reitender Elf mit hohem, geflügeltem Helm sein Pferd trieb. Ein junger Chatagare mit einem Korb voller Brot auf dem Rücken, ein Halbwüchsiger wohl, denn er trug nur den kurzen, zauseligen Ansatz einer Mähne, kam nicht rechtzeitig aus dem Weg, doch der Reiter dachte gar nicht daran, sein Pferd zu zügeln. Der junge Chatagare wurde grob zu Boden gestoßen, fing sich im Fallen noch einen Tritt des Elfs ein. Brotlaibe kullerten hinter dem Reiter über die Straße. Jitaj und Ras waren rechtzeitig ausgewichen um nicht in den Lauf des Reiters zu gelangen, doch als er an ihnen vorüber war schoss die junge Madrai ihm den grimmigsten Blick in den Rücken, zu dem sie im Stande war. Doch obwohl sie dem Elf aufs herzlichste alles Schlimme wünschte bewirkte ihr Blick nichts dergleichen.

Ras knurrte den Elfen bedrohlich an, und beide Hände legten sich unwillkürlich auf die Griffe seiner Äxte. Natürlich hatte man sie ihm weg nehmen wollen, als sie die Stadt betreten wollten. Aber Ras hatte sich geweigert, mit der Begründung, seine jugendliche Begleiterin vor Straßenräubern beschützen zu müssen. Ein einsichtiger Mensch hatte dem schließlich zugestimmt und ihn weiter geschickt, ohne seine Waffen einzufordern. Doch auch dieses Erlebnis hatte Ras' Wut auf die Sarvelger nicht mindern können - es war nicht mehr als ein winzigkleiner Tropfen auf den sengendheißen Stein gewesen.
Der Elf bekam von den Zornesbekundungen des jungen Madran nichts mit; er hatte wohl besseres zu tun, als sich um die Reaktionen des gemeinen Pöbels zu kümmern. Ras warf ihm noch einen haßerfüllten Blick hinterher und setzte dann seinen Weg fort. In der Gasse, aus der der Elf gekommen war, hatte der erste Händler, zu dem sie mußten, einen Laden, und die beiden Madrai steuerten zielstrebig darauf zu.

Der Elfenreiter kam auch an Ariena und Kovu vorbei, oder besser gesagt die beiden wurden beinahe umgeritten. Ariena bemerkte den Reiter allerdings noch rechtzeitig und konnte Kovu gerade noch am Gürtel packen und aus der Bahn ziehen. "Hey!!", rief der junge erschrocken. Man konnte Kovu ansehen, dass der Schock ihm noch in den gliedern sass. "Was ist mit dem los, spinnt der? Der kann uns doch nicht einfach niederreiten." "Leider doch Brüderchen, daran siehst du wie die Sarvelger uns sehen... dem ist es egal, wenn er einen von uns verletzt, es kümmert sie nicht..." Sie seufzte. "Los komm wir müssen weiter..." Kovu blickte seine Schwester etwas irritiert an, bevor er ihr folgte, so verbittert hatte er sie noch nie erlebt.

Der Laden, den Ras zielstrebig ansteuerte - ob er schon einmal in Karanik gewesen war oder einfach nur einer guten Beschreibung folgte wusste Jitaj nicht - war ein kleiner Eisenwarenhandel, eigentlich wenig mehr als der niedrige Vorraum einer Schmiedewerkstatt, die lediglich zum Teil durch eine Wand abgeschirmt war. Ein älterer Chatagare - offensichtlich der Meister - kam aus dem hinteren Teil hervor und wandte sich an Ras. Jitaj, die ganz offensichtlich Jüngere von ihnen, grüßte er lediglich mit einem knappen Nicken. Ihr war es nur zu recht, wenn Ras das Geschäftliche übernahm. Sie nutzte stattdessen die Zeit, sich ein wenig in dem Laden umzusehen. Nicht, dass es da viel gegeben hätte. Ein paar Messer in den Regalen, einige grob gezimmerte Holzkästen voller Nägel, Nieten, Haken. Interessanter war da schon die sich anschließende Werkstatt. Neugierig trat Jitaj um die Wand herum in den schummrig von der Esse erleuchteten Raum. Der Meister, der noch immer mit Ras beschäftigt war, hinderte sie nicht daran. Ein junger Chatagare, vielleicht zwei oder drei Jahre älter als sie selbst, stand am Amboss, in der Hand eine Zange, mit der er ein rotglühendes Stück Eisen umfasst hielt. Funken stoben auf wann immer sein Hammer auf den Rohling traf und Jitaj folgte fasziniert ihrem Flug mit dem Blick.
"Hallo du", sprach sie den Lehrling ohne jede Scheu an. Dieser hob ein wenig verwundert den Blick, musterte sie aus zusammen gekniffenen Augen.
"Was machst du denn hier?", fragte er verwundert, skeptisch, aber nicht unfreundlich. Jedenfalls kam es Jitaj so vor.
"Ich sehe mich um", antwortete sie, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, "Du bist ganz schön hart am arbeiten..." Sie wies mit dem Finger auf das heiße Eisen auf dem Amboss.
Der Junge zuckte mit den Schultern. "Ich muss mir mein Brot verdienen. Will was zu beissen haben...", antwortete er knapp, ohne dabei den Rhythmus seiner Hammerschläge zu verlangsamen. Etwas bitteres lag in seinen Worten, das Jitaj aufhorchen ließ. Etwas, das andeutete, dass er Armut und Hunger nur zu gut kannte.
"Hast du denn kein Rudel? Keine Familie?", fragte sie vorsichtig, zögerlich.
"Sind tot. Die Sarvelger haben sie umgebracht. Und meinem Meister nehmen sie soviel Steuern ab, dass er uns beide kaum satt bekommt..."
Es war das dritte mal an diesem Tag, dass Jitaj von der Rücksichtslosigkeit, der Schonungslosigkeit, der Brutalität der Sarvelger hörte. Es traf sie härter, tiefer als sie gedacht hatte, dass etwas, was sie selbst im Grunde nicht betraf, sie treffen könnte. Es schmerzte, so deutlich auf die Ungerechtigkeit der Welt hingewiesen zu werden. Und nicht einmal ihren Grund zu kennen. "Aber warum tun sie das?", fragte sie, hilflos, beinahe weinerlich.
"Weil sie es können. Weil sie die Macht dazu haben", kam die hasserfüllte Antwort, "Sie werden uns irgendwann noch alle zu Grunde richten. Sie bluten Lonais aus..." Er wandte den Blick wieder auf seine Schmiedearbeit und ließ kein weiteres Wort vernehmen. Jitaj sah es als deutliches Zeichen, dass der fremde Junge nicht weiter mit ihr reden wollte. Sie murmelte einen leisen Abschiedgruß und wandte sich um. Als sie zurück zu Ras in den Laden kam wirkte sie geknickt und Kummer sprach aus ihren Zügen.

Während Jitais Unterhaltung mit dem Lehrling hatte Ras das Geschäftliche übernommen. Er war gerade fertig und wollte durch die Tür nach draußen treten, als seine Begleiterin herein kam, einen traurigen Blick auf ihrem Gesicht.
"Was ist mit dir?" erkundigte er sich neugierig.

Jitaj blickte traurig zu Ras auf während sie wieder hinaus auf die Straße traten. "Warum sind die Sarvelger so böse zu uns?", fragte sie leise, "Warum tun sie uns das alles an? Und warum tut niemand was dagegen?" Das Gedränge auf der Straße wurde wieder dichter und Jitaj konnte nun nicht mehr neben Ras laufen. Sie heftete sich also dich hinter ihn, hielt den Blick gesenkt und gab sich Mühe so zu sprechen, dass er sie verstehen konnte, die Leute um sie herum - wenn sie denn nicht darauf achteten - nicht. "Warum müssen so viele Leute sterben? Warum verhindert das niemand? Das ist doch unsere Welt, oder? Warum dürfen wir hier nicht in Frieden leben?"

Es dauerte nicht lange bis Ariena und Kovu das Handwerksviertel erreicht hatten. Ariena hatte den Laden, den sie gesucht hatte, recht schnell gefunden. Kovu konnte sich hier gar nicht sattsehen, vor allem eine verstärkte Lederrüstung die im Geschäft ausgestellt war zog seine Blicke auf sich. Ariena grinste, vermutlich stellte sich ihr Bruder gerade vor, wie er in dieser Rüstung aussehen würde. Sie schüttelte den Kopf und lies ihn noch ein Weilchen träumen. Stattdessen widmete sie sich dem, weswegen sie eigentlich auch hier war. Das Leder, das sie dabei hatte, war zwar praktisch unverarbeitet doch dafür von einer guten Qualität, dennoch musste sie hart verhandeln, um einen akzeptablen Preis herauszuschlagen. Dies zeigte ihr aber auch, wie schlecht es den Händlern ging, wenn sie wirklich um Kupferstück kämpften. Nachdem sie ihr Leder verkauft hatte, entdeckte sie noch ein Paar robust wirkende Lederhandschuhe. Ihre Handschuhe aus Stoff waren schon ziemlich zerschlissen und so stark, wie die bei Ihr beansprucht wurden, würde auch das nächste Paar nicht lange halten.

"Das weiß ich nicht," gab Ras ebenso leise zurück, und es war die ehrlichste Antwort, die er geben konnte. Jitai hatte recht - dies war ihre Welt! Die Sarvelger hatten hier nichts zu suchen, sie durften eigentlich gar nicht hier sein. Aber anstatt zu gehen und Lonais den Lonaisern zu überlassen, beuteten sie die hiesigen Völker aus. Ras hätte sie dafür am liebsten alle umgebracht, doch ihm war klar, daß er vermutlich schon tot sein würde, bevor er auch nur seine Waffen erhoben hatte, würde er es versuchen wollen. Das erfüllte ihn mit einer ohnmächtigen Wut, die umso schlimmer war, weil er wußte, daß er nichts unternehmen konnte.
Wenn sich doch nur eine Rebellion erheben würde, der er sich anschließen konnte... in der Masse wären sie stark und könnten etwas bewegen. Doch niemand schien den Mut zu haben, den ersten Schritt zu tun. Für Ras galt das ebenfalls.

Gemächlich wanderte sie Sonne über den Himmel und sank schließlich zum Horizont hinab. Die hohen Häuser warfen lange Schatten und tauchten ganz Karanik in schummriges Zwielicht. Sie hatten etwas beinahe Bedrohliches, wie Jitaj fand. Als würden sie sich langsam über sie neigen, es darauf anlegen, sie in den schmalen Straßenschluchten zu verquetschen. Doch das war in diesem Moment nicht das dringlichste Problem der jungen Madrai. Ras und sie waren den ganzen Tag unterwegs gewesen, zuerst über Land, dann in den Straßen Karaniks. Ihre Füße schmerzten und auch ihr Magen knurrte inzwischen vernehmlich. Seit dem Morgen hatte sie nichts mehr zu essen bekommen. Sie wollte nicht mehr weiter. Es war doch jetzt eindeutig genug.
"Raaas! Ich hab Hunger!", verkündete sie quengelnd, "Und ich bin müde. Müssen wir noch weiter durch diese Stadt laufen? Können wir nicht irgendwo einkehren?"

Inzwischen war es Abend geworden, und Ras hatte alle Einkäufe, die ihm aufgetragen worden waren, erledigt. Erst jetzt, als Jitai zu quengeln begann, fiel ihm auf, daß auch seine Füße bereits weh taten, und instinktiv suchte er nach einer Herberge. Wie es der Zufall wollte, fiel sein Blick fast sofort auf das Schild einer Taverne, und auch wenn er sie noch nie gesehen hatte, beschloß er, dort einzukehren.
Als sie das Gebäude betraten, stellte er zu seiner Erleichterung fest, daß es von einem Madrai geführt wurde. Kein Sarvelger. Gut so. Die Schankstube war nicht besonders groß, und die Tische und Bänke standen recht eng beeinander. Der Raum war nicht einmal zur Hälfte besetzt, und auch unter den Gästen war kein einziger Sarvelger zu sehen. Allein das machte Ras diese Taverne bereits sympathisch.

Das Gasthaus war klein und düster, das Licht, das durch die verdreckten Butzenscheiben fiel mehr als dürftig, aber Jitaj störte sich in diesem Moment wenig daran. Vielleicht lag es auch daran, dass sie selten in anderen Gasthäusern eingekehrt war und ihr so der Vergleich fehlte. Im Dorf des Rudels gab es so etwas wie das hier nicht. Es gab anderthalb Dutzend Hütten, allesamt kleiner als dieses Haus hier und die wenigsten davon offener oder heller gestaltet. Warum auch? In seine Hütte ging man wenn man schlafen wollte oder vielleicht noch, wenn draußen schlechtes Wetter war. Die Ansprüche, die man da stellte, waren bescheiden. Im Moment bestanden Jitajs Ansprüche vor allem in etwas Essbarem. Was genau, das war ihr relativ egal. Etwas Warmes wäre gut. Und dann ein Bett oder eine Lagerstätte, wo sie ihre Füße hochlegen konnte. Das würde völlig ausreichen.
Ras führte sie zu einem noch unbesetzten Tisch und Jitaj ließ sich augenblicklich erleichtert auf der zugehörigen Bank nieder. Es war höchste Zeit, dass sie ihre wunden Füße entlastete. Sie wollte keinen Schritt weiter gehen, wenn es denn nicht sein musste. Mit großen Augen blickte sie zu Ras auf. "Gehst du zum Wirt und holst uns was zu essen?", fragte sie bittend, "Ich kann einfach nicht mehr nach diesem langen Tag..."

Auch Ariena und Kovu betraten kurz darauf die gleiche Taverne. durch die zähen feilschereien hatten die beiden Geschwister viel länger gebraucht um ihre besorgungen zu machen als eigentlich geplannt und nun suchten sie sich eine bleibe für die Nacht. Kovu blickte sich um und musterte die Gäste genau, während Ariena direkt richtung Gastwirt ging um nach einem Zimmer zu fragen.
Dem jungen Chatagar vielen zwei Madrai auf, die aus den Leuten irgendwie herausstachen, warum wusste er selber nicht genau, vieleicht weil sie, wie er selber, auch so wirkten als Währe die Stadt nicht ihr Zuhause oder vieleicht auch weil sie wirkten wie Bruder und Schwester, was ihn an sich selbst und Ariena erinnerte. diese kam gerade eben von der Theke zurück und Legte Kovu eine Hand auf die Schulter. "alles in ordnung kleiner Bruder, wir haben ein Zimmer für die Nacht und der Wirt hat sogar noch etwas Warmes zu Beissen für uns beide." "Toll Schwesterchen, was gibt es?" Er führte Ariena an einen Tisch neben Ras und Jitaj und setzte sich dort hin. "Der Wirt meinte es sei eine kräftige Fleischbrühe, hoffentlich hat er recht das währe jetzt genau das richtige um den Tag abzuschliessen." Kovu nickte heftig. "Hoffentlich hat es viele Fleischstücke drinn." Ariena lächelte. "Erwarte nicht zuviel, der Wirt muss ja auch von etwas Leben, also wird es sich in grenzen halten."

Jitai setzte sich hin, und Ras ging los, um etwas zu essen zu holen. Kurz darauf kehrte er mit zwei Tellern voller Fleischstücke zurück, von denen er einen vor seiner Begleiterin abstellte. Er selbst setzte sich ihr gegenüber und begann ohne großen Appetit zu essen.

Ras brachte etwas zu essen und Jitaj, die den ganzen Tag schon ihren knurrenden Magen auf später hatte vertrösten müssen, fiel wie eine Verhungernde über das Fleisch her. Sie achtete gar nicht so wirklich darauf, was sie da überhaupt in sich hinein schaufelte, geschweige denn, wie es schmeckte. Auf die merkwürdige Weise, die so vielen ihres Volkes eigen war - vor allem den Frauen - schaffte sie es dabei, den offensichtlichen Anschein eines Mangels an Manieren mit einer dennoch nicht abzustreitenden Eleganz zu verbinden. Es hatte etwas animalisches an sich, wie sie so aß.
Erst als sie ihren gröbsten Hunger gestillt hatte und das Unwohlsein aus ihrem Magen gewichen war nahm Jitaj sich die Zeit, sich die beiden Gestalten, die sich mittlerweile an den Nebentisch gesetzt hatten, näher zu mustern. Es waren zwei Chatagaren und der jüngere von ihnen schien in etwa in ihrem Alter zu sein. Jitaj war sich nicht so ganz sicher, ob es nicht unhöflich wäre, den Jungen während dem Essen anzusprechen und so entschied sie, dass es besser war den Mund zu halten. Nicht, dass sie sich noch einen Tadel von Ras einfangen würde. Dies hinderte sie jedoch nicht, auf jene universell verständlichen Mittel der Kommunikation zurück zu greifen, die ihr sonst so zur Verfügung standen: Blicke, Zwinkern, Lächeln. Im Grunde war es unmöglich, dass der junge Chatagare sie nicht bemerken würde.

Den beiden Geschwistern entging natürlich nicht das die Madrai neugierig in ihre richtung blickte. Ariena viel es recht früh auf, sagte jedoch nichts, den sie bemerkte auch das die aufmerksamkeit Kovu galt, was sie auch verstehen konnte, einen Chatagaren mit schwarzem Fell sah man selten. Kovu hingegen fand sein Essen im ersten moment interesannter, doch schlieslich bemerkte auch er die Blicke und das Zwinkern von Jitaj. Und als die Madrai ihn anlächelte wurde er auch ein wenig verlegen, vermutlich weil auch er angefangen hatte sie zu mustern, allerdings nicht so diskret, und nun dachte Jitaj lächelte deswegen. Er blickte kurz zu seiner Schwester, doch diese stellte sich offensichtlich unschuldig an, so als hätte sie gar nichts mitbekommen. Innerlich grinste Alena jedoch, ihr kleiner Bruder war, was Frauen anging, sehr schüchtern, was im starken gegensatz zu seinem sonstigem verhalten stand, das er zum Beispiel bei den anderen Jägern iher Gruppe an den Tag legte.
Kovu hatte inzwischen seine Schale abgesetzt und ein schüchternes lächeln erwidert.

Der junge Chatagare mit dem dunklen Fell hatte sie nun bemerkt, den Blick zu ihrem Tisch gewandt und Jitajs Lächeln erwidert. Auch er blieb stumm, doch immerhin hatte sie nun seine Aufmerksamkeit. Wenn er sich bereits ihr zugewandt hatte, dann konnte es wohl kaum noch unhöflich sein, ihn anzusprechen. Es wäre nicht Jitajs Art gewesen, abzuwarten bis der andere den ersten Schritt tat. Sie beugte sich noch ein Stück weiter zum Nachbartisch hinüber. "Hey, du...", sprach sie den Jungen neugierig an, halblaut. Ras würde sie trotzdem verstehen können und die ältere Begleiterin des jungen Chatagaren ebenfalls, aber der Rest der Gasthausbesucher würde seine Mühe damit haben, "Ihr beide seht auch so aus, als ob ihr nicht von hier seid. Nicht aus der Stadt, meine ich. Wo kommt ihr her? Was macht ihr hier?" Sie war sich nicht ganz sicher, ob der Junge antworten würde. Immerhin kannte er sie ja nicht. Aber ihre Neugierde war einfach größer als ihre Bedenken.

Kovu lehnte sich ebenfalls etwas zu Jitaj hinüber um ihr zu antworten. "Ja wir sind nicht aus der Stadt, kann man das so deutlich sehen?" Er blickte kurz zu seiner Schwester, doch diese gab sich offensichtlich desinteresiert. "Wir sind hierher gekommen um unser überschüssiges Leder zu verkaufen und einige besogungen für unseren Stamm zu machen, halt dinge die wir nicht selber herstellen können und man nicht von fahrenden Händlern bekommt... und was ist mit euch beiden?"

Ebenso wie die Begleiterin des jungen Chatagaren war auch Ras im Augenblick nicht an einem Gedankenaustausch interessiert. Als sie beide aufgegessen hatte, griff er nach Jitais Arm und zog sanft daran.
"Es war ein langer Tag. Zeit, uns schlafen zu legen. Komm jetzt."
Ohne ein weiteres Wort stand er auf und ging in Richtung der Treppe, die nach oben zu den Gästezimmern führte. Er schien ganz selbstverständlich davon auszugehen, daß Jitai ihm folgte.

"Wir sind auch nicht von hier. Wir kommen aus einem Dorf ganz weit im..." Jitaj stockte als ihr aufging, dass sie gar nicht wusste, in welcher Himmelsrichtung das Dorf des Rudels überhaupt lag. Kurzentschlossen deutete sie deshalb in die entsprechende Richtung. "... in der Richtung. Wir haben Eisenwaren eingekauft, aber so genau weiß ich gar nicht, was das alles ist. Ras weiß das..." Sie wollte fortfahren und hätte mit Sicherheit noch eine Menge zu sagen gehabt, doch in diesem Moment mischte ihr Begleiter sich in ihr Gespräch ein.
"Ich muss dann wohl gehen...", stellte sie entschuldigend fest und lächelte den Jungen schief an, "Aber vielleicht sieht man sich morgen ja noch bevor wir aufbrechen. Gute Nacht, jedenfalls..." Sie erhob sich von ihrem Stuhl, hob noch einmal die Hand zu ein wenig zum Gruß, dann folgte sie Ras die Treppe hinauf. Das Zimmer in der Gaststube war klein und spärlich ausgestattet: zwei strohgefüllte Matrazen auf dem Bogen, ein dreibeiniger Hocker und ein kleines Tischchen mit einer Kerze darauf, mehr hatte es nicht zu bieten. Jitaj jedoch störte sich nicht daran. Im Gegenteil! Auch im Dorf hatte sie wenig mehr als eine Strohmatte gehabt und es war bei weitem besser als unter freiem Himmel zwischen den Wurzeln schlafen zu müssen. Zufrieden seufzend zog Jitaj sich die Stiefel von den Füßen und sank auf die eine Matraze hinab, verschwand unter der Decke. Sie hatte den Schlaf nach dem langen Tag bitter nötig und der nächste Tag würde wieder eine weite Wanderung bereit halte. Zurück, ins Dorf. Zum Rudel...

Etwas unbeholfen lächelte Kovu zurück und winkte Jitaj verlegen zum Abschied. "Ja vieleicht.. bis morgen." Ariena und Kovu blickten den beiden Madrai noch nach, bis sie schlieslich nach oben verschwunden waren, doch lange blieben sie auch nicht mehr sitzen. "Wir sollten auch auf unser Zimmer gehen, der Tag in der stadt war anstrengend und morgen müssen wir uns auf den Rückweg machen, schlieslich wartet unser Rudel auf uns." Kovu nickte nur. Er hatte erst jetzt bemerkt wie müde er eigentlich war, vorher fühlte er sich nur ein bischen erschöpft, hunger und das gespräch hatten ihn abgelenkt, doch nun, da er satt war und Jitaj weg, machte sich die müdigkeit sehr deutlich bemerkbar. Ariena ging es nicht anders, sie war auch fertig, nicht körperlich, doch die zähen verhandlungen um die Preise hatten an ihr gezerrt wie eine intensive Jagd, die sie in Zukunft wohl vorziehen würde.
Müde gingen die beiden dann ebenfalls nach oben in ihr, ebenfalls schlicht eingerichtetes, Zimmer. Keiner von beiden schien noch ein Wort wechseln zu wollen, sondern einfach nur Schlafen. Kurz darauf hatten sie sich ausgezogen und jeder auf seiner Strohmatte unter seine Decke gekuschelt. Kovu lies seine gedanken nocheinmals zu Jitaj schweifen und hoffte das er sie morgen nochmals sehen würde, die Madrai war ihm irgendwie sympatisch, doch dann dämmerte er bereits weg ins Reich der Träume. Ariena lies den Tag nochmals kurz in Gedanken passieren und war froh das sie morgen hier weg kamen... sie würden sich zwar etwas beeilen müssen um die verlorene zeit wieder reinzuholen, doch das war gut machbar... danach war auch sie eingeschlafen.

Während Ariena schlief, war ihr, als würde sie gerufen. Ein Ruf, der sie aus ihrem Schlaf weckte. Er schien sie zu locken, zu wollen, das sie in das Zimmer neben dem ihrigen ging, in dem die beiden Madrai - ohne das sie es wissen konnte - ging, das dort etwas wichtiges wartete, um das sie sich würde kümmern müssen.

Als Kitsera in der hohen Kammer verschwand, erschien sie mit dem Gleichen Geräusch, dem Wassertropfen in der hallenden Höhle, im Zimmer der Madrai. Nicht lange und die Chatagara, so war sich Kitsera sicher, würde ebenfalls in das Zimmer kommen. Doch wie würden die Madrai auf sie und die anderen hohen Herren reagieren? Kitsera lächelte, während sie auf ihre Gefährten wartete - ebenso wie auf die Chatagara und die Reaktion der Sterblichen. Sie spührte, das die anderen drei neben ihr erschienen. Caligo mit seinem dunklen Nebel, dann die Flammen von Kurama und schließlich legte sich der Geruch nach Waldboden, Blut und Schweiß, den Lotis vorrausschickte, in die Luft, bevor die anderen drei hohen Herren neben Kitsera erschienen und schweigend abwarteten, was geschehen würde. Stille.