[MSG-Thread] Phönixherz

Dicke, schwere Schneeflocken bließen in Snorris Gesicht, bildeten eisige Krusten in seinem Bart und den buschigen Augenbrauen und selbst die Tief hinab gezogene Kapuze konnte nichts gegen das Wüten des Sturms ausrichten. Hätte er mal nur seinen Schal nicht dem Elfen um den Kopf gebunden! Bei diesem Wetter bereute er es beinahe. Aber der Junge brauchte den Schutz, den der dicke Wollstoff versprach, zweifellos dringender als er. Snorri warf einen Blick über die Schulter auf den Schlitten und die reglose Gestalt, die fast völlig unter einer dünnen Schicht frischen Schnees verschwunden war. Ob er noch lebte? Snorri wollte es doch hoffen! Sonst wäre all dies hier umsonst gewesen! Aber gleichwohl war ihm bewusst, dass dies ein Wettlauf gegen die Zeit war. Wenn er den Jungen nicht bald ins Warme brachte, dann konnte kein Schal der Welt ihn mehr retten. Er richtete den Blick wieder geradeaus, fokussierte durch gegen den Wind zusammen gekniffene Augen die Lichtsäule, die sich trotz des Schneetreibens in der Ferne abzeichnete und stapfte, den Schlitten fest an beiden Griffen gepackt, weiter.
In den Jahren seit der Katastrophe war eine Straße von Ravnirs Licht aus angelegt worden, die breit und eben hinaus ins Land und in Richtung der alten Landstraße führte, doch der Sturm – der erste wirkliche Schneesturm dieses Winters – hatte das ganze Land unter einer Decke von bald einer Elle Tiefe begraben und selbst wenn es Snorri möglich gewesen wäre, die Straße auszumachen, hätte ihm dies kaum genutzt. So oder so musste er sich seinen Weg durch die Schneewehen pflügen, mal bis zum Mantelsaum, mal bis über die Knie einsinkend. Er hielt sich am Rand des Waldes, dieses kargen, toten Hains laubloser, grauer Bäume, der zumindest das schlimmste Wüten der Elemente eindämmte, aber immer mit Blick auf das Licht. Wäre das Licht nicht gewesen, selbst ein so erfahrener Wanderer wie Snorri hätte wohl blind durch den Schneesturm stapfen müssen. So jedoch blieb ihm zumindest dieser Wegweiser und ein jeder Schritt brachte ihn dem Phönixstein und dem Schutz, den dieser versprach, näher. Bald schon nahm das Toben des Himmels ab, aus dem Pfeifen des Sturmes wurde ein Wispern und anstatt von allen Seiten um ihn zu wirbeln, fielen die Schneeflocken lediglich noch in gespenstisch stillem Tanz zu Boden. Der Weg wurde angenehmer, als die Schneedecke auf einige Fingerbreit Tiefe schrumpfte und schließlich schälten sich vor Snorris Augen die Palisaden der Ansiedlung aus dem ewigen Zwielicht.
Zwei Männer hielten Wache am Tor, beide Menschen, in schwere Pelze und lange Umhänge gehüllt und auf ihre Speere gestützt. Sie wirkten so begeistert von ihrer Aufgabe, wie man dies von einem Wachposten unter so widrigen Umständen erwarten würde, doch als sie Snorri bemerkten, schreckten beide auf und kamen dem Wanderer entgegen.
„Snorri Erzsucher“, stellte der eine von ihnen wie zum Gruß fest, als der Zwerg seine Kapuze zurück schlug und die gröbsten Eiszapfen aus seinem Bart strich, „Du bist zurück gekehrt. Warst du erfolgreich dort draußen?“ Er warf einen fragenden Blick auf Snorris Schlitten, während sein Kamerad an diesen heran trat und den Schnee fort strich, der sich über den Elfen gelegt hatte.
„Ein Toter!“, stellte der Wachposten verwundert fest.
„Natürlich nicht“, blaffte Snorri ihn an, „Denkst du etwa, ich hätte einen Toten hierher geschleift, nur um ihn zu begraben? Er lebt noch. Oder hat es jedenfalls bis vor einer Stunde getan, als ich das letzte mal geschaut habe. Sein Puls ist flach, aber noch da und er atmet noch.“
„Wer ist er? Ein Fremder?“, forschte der erste Posten nach.
„Keine Ahnung“, gab Snorri zurück, „Habe ihn in den Überresten von Fenderbach gefunden. Da war er schon so, wie er jetzt ist. Bewusstlos, meine ich. Und jetzt helft mir lieber mit dem Schlitten, anstatt hier nur dumm herum zu stehen. Ihr seht doch, dass der Junge Wärme braucht!“
Er griff erneut nach dem Schlitten, erwartungsvoll zu den beiden Wachmännern blickend, doch diese zögerten. „Der Kerl ist niemand aus Ravnirs Licht. Ein Fremder“, gab der zweite zu bedenken, „Hauptmann Kessen hat verfügt, dass wir vor Ende des Winters niemanden mehr aufnehmen können. Unsere Vorräte...“
„... sind knapp, ich weiß“, fiel Snorri ihm unwirsch ins Wort, „Ich kann es nicht mehr hören! Was sollen wir tun? Ihn hier vor der Palisade zum Erfrieren zurück lassen? Das kann ja nicht dein Ernst sein.“
„Warum hast du ihn überhaupt hierher gebracht? Du wusstest doch...“
„Hör mir mal zu, Bürschchen“, explodierte Snorri und diesmal war es nicht mehr die Kälte, die ihm die Röte in die Wangen trieb, „Ich lasse niemanden verdammt nochmal zum Sterben zurück. Ich sage, wir bringen ihn da rein. Und was unsere elendigen Vorräte angeht: keiner von euch beiden Jammerlappen war jemals im Winter da draußen. Ich schon! Hätte ich damals nicht den verschütteten Kornspeicher in Graubrunn gefunden, solche Drückeberger wie ihr wären schon vor zwei Wintern verhungert! Also sagt ihr mir nicht, was wir mit unseren Vorräten anstellen sollen. Ich sage, wir bringen den Jungen da rein. Habt ihr ihn euch überhaupt genauer angesehen? Die Ohren? Er ist ein Elf. Und ich will wissen, was ein Elf mitten im Winter hier draußen macht. Also werden wir verdammt nochmal zusehen, dass er wieder aufwacht. Und jetzt packt mit an und helft mir, ihn in die große Halle und an ein Feuer zu bekommen!“

Die dicke Fellkluft schien in der Nähe des Feuers beinahe zu dampfen. Vielleicht tat sie das sogar. Ingra war sich nicht ganz sicher. In jedem Fall tat es gut wieder hier zu sein. Die Zehen zum Feuer strecken zu können und sich zum ersten Mal seit ein paar Tagen wieder so richtig warm zu fühlen. Irgendwas da draußen machte die Kälte noch unerträglicher als sie das ohnehin schon war. Sicher, es half ganz bestimmt nicht, wenn man alleine reiste. Beziehungsweise, wenn man alleine umher wanderte. Wenn man sich beim Einschlafen nicht sicher sein konnte, ob man am nächsten Morgen auch noch aufwachte. Jedes Feuer war Risiko und Schutz zugleich. Aber so war die Welt jetzt nun einmal. Auch wenn man sie vielleicht wieder in Ordnung bringen konnte. Ingra hatte keine Idee wie oder wie lange das dauern würde. Vermutlich würde es das Lebensalter eines jeden hier überschreiten. Also blieb zunächst nur einmal durchzuhalten. Aber das konnten die Zwerge gut. Zumindest die...die nicht...
Die Zwergin schüttelte den Kopf und streifte eine kleine magische Entladung von ihrem Fellrock. Nutzlos. Die Runen waren nutzlos. Die Funken, die sie manchmal versprühten, gaben nicht einmal Hitze ab. Sie war dankbar für das bisschen Training, was sie von den Streitern der Festung bekommen hatte. Ohne die Dauerläufe durch den Schnee und die Waffenübungen hätte sie es nicht bis hierher geschafft. Grüne Augen sahen sich um, überprüften ob der Runenhammer noch an Ort und Stelle war. Eine eigentlich sinnlose Wachsamkeit. Es gab wohl kaum jemanden hier, der das Ding würde heben können.
Die Tür öffnete sich und ließ einen Schwall kalter Luft in den wunderbar warmen Innenraum der großen Halle. Ein kleine Gestalt schob sich hindurch und schleifte etwas hinter sich her. Beziehungsweise schien es getragen zu werden.
"Snorri", grüßte Ingra mit zumindest einem Ansatz von Freude in der Stimme. Ein weiterer Zwerg. Es war einfach gut zu sehen, dass sie nicht alle...

Verflucht, war das eine kälte.. Allorion knurrte ungehalten. Schlotternd rieb er seine Hände und hielt diese immer wieder nahe an das Feuer. Seid einiger zeit saß er in diesem Dorf fest, das erlöschen des leynetzes hatte ein brennen in seinem Körper hinterlassen, das ihn immer wieder zittern machte. Er hatte ein paar angehörige seines Volkes getroffen, die ähnliches berichteten, aber seid er in dem Dorf festsaß hatte er keine weiteren Elfen mehr getroffen. Zwerge gab es hier und menschen, aber keine Elfen. Am liebsten würde er einfach aufbrechen und nach hause. Aber er konnte sich nicht wirklich aufraffen. Und ob er es alleine schaffen würde, war unklar.

Es hatte eine starke Hand, ein paar nette Worte und eine ganze Menge Nägel gebraucht, um die Planke am Dach der großen Halle anzubringen, doch letztlich hatte es sich gelohnt. Die Materialien, insbesondere das Metall, war einfach nicht mehr das, was es einmal gewesen sein mochte, in einem anderen Leben. Vieles war verborgen, rostig oder von den starken Temperaturschwankungen zwischen Feuern und eisiger Kälte mürbe geworden, so dass man sich nie sicher sein konnte, was einem beim Schlag mit einem Hammer erwarten mochte. Es erfüllte Darren deshalb stets mit einer tiefen Zufriedenheit, wenn der Nagel durch Holz getrieben wurde und nach einem kräftigen Ruck ein Brett an Ort und Stelle verblieb.
Der Lohn seiner Arbeit war nicht mehr als eine warme Schüssel Eintopf am Feuer, gekocht aus den kargen Vorräten und den wetterresistenten Rüben, die man im Umkreis der Phönixsteine züchten konnte, doch als er ein paar Kinder dabei beobachtete, wie sie sich über die fehlende Zugluft in der Ecke freuten, die er heute Morgen ausgebessert hatte, wärmte ihm das das Herz mehr als es selbst die am schärfsten gewürzte Suppe seiner Frau vor Ewigkeiten vermocht hätte.
Darren schnaubte, wobei Dampf von seinen Nüstern aufstieg, und er vermischte die Zutaten des Eintopfes in seiner Hand, wie er es gerne mochte, zu einer Art einheitlichem Nahrungsbrei. Ein unangenehm klares Bild seiner Frau zuckte einen Moment vor seinen Augen auf, die Hand in die Hüfte gestemmt, ihn für irgendetwas mit einem halben Lächeln tadelnd, und Darren wünschte sich für einen langen, verzweifelten Augenblick, seine Hand möge nicht eine Suppenschüssel, sondern eine große, gefüllte Flasche umschließen. Nur langsam schwommen seine Gedanken wieder nach oben, dem Licht entgegen, und er sandte ein leises, demütiges Gebet an die Lebensmutter, das seine Seele beruhigte. Gerade führte er einen Löffel voll Eintopf an seine Lippen, als die Tür aufging und Darren Snorri und einen Fremdling vorfand, der von diesem in die Halle geschleift wurde. Für eine Weile hielt sich der Tischler auf Distanz - er war kein Heiler, und fürchtete, im Aufruhr nur Schaden anzurichten - doch als er sich erinnerte, dass Fremde eigentlich keinen Zutritt mehr zu ihrer Siedlung erhielten (eine Sache, die Darren im Stillen mit sich diskutierte und für nötig, wenngleich ethisch fragwürdig empfunden hatte), stand er doch auf und besah sich, etwa gleichzeitig mit Ingras Erscheinen, das Schauspiel.
"Was brauchst du, Snorri?", fragte er, den Gedanken an Überfüllung, Rationierung und das Überleben des Stärkeneren beinahe so selbstverständlich verdrängend, wie ihm Hilfsbereitschaft und Besorgnis in die Miene fiel. Seine Stimme klang wie immer sanft, ruhig, aber dröhend genug, dass Snorri ihn über die schnatternde Menge und die tuschelnden Leute würde hören können.

Wärme schlug Snorri entgegen, als er die Türe der großen Halle aufstieß. Wärme, wie sie nur von einem lodernden Feuer und unzähligen zusammen gedrängten Leuten her rühren konnte. Wärme, die ihm den Schnee in Bart, Brauen, Haaren schier augenblicklich schmelzen ließ, sodass Tropfen um Tropfen eisigen Wassers sein Gesicht und seinen Hals hinab rann. Er schälte sich aus seinen Handschuhen und versuchte, das Gröbste abzuklopfen, während die beiden Männer vom Tor den Bewusstlosen vom Schlitten hievten und in die Halle trugen.
"Zum Feuer rüber", kommandierte Snorri, ihnen folgend, "Er braucht Wärme. Macht Platz, ihr verdammten Gaffer, seht ihr nicht, dass das hier ernst ist?" Unsanft drängte er ein paar übereifrige Schaulustige zur Seite, bahnte sich einen Weg vor die beiden Wachmänner und schuf mit der ihm eigenen Direktheit eine Gasse durch die Menschenmenge. "Hier hin. Nein, nicht zu nahe, er soll nur auftauen, nicht kross gebraten werden! Ja, so ist gut." Er scheuchte die beiden Wachmänner zur Seite, kaum, dass diese ihre Aufgabe erfüllt hatten, und machte sich selbst daran, den noch immer bewusstlosen junge Elfen so am Herdfeuer zu drapieren, wie das seiner Meinung nach am besten war und ihn dann von den diversen Schichten an Schals, Mänteln und Umhänge zu befreien, in die er ihn gewickelt hatte. Als er damit fertig war und sich umblickte konnte er erkennen, dass er dicht umringt war von einer Schar fragender Gesichter. Die meisten waren ihm bekannt, einige darunter hätte er als Freunde bezeichnet, andere Eiswanderer. Manche erhoben die Stimme, als er den Blick über sie schweifen ließ, stellten Fragen, boten Hilfe an.
"Haben wir etwas Warmes hier, das wir ihm einflößen können?", fragte Snorri in die Runde, "Brühe? Tee? Irgendwas? Nun kommt schon, steht nicht nur so rum. Das ist ja wohl kaum das erste mal, dass ihr jemanden seht, den die Kälte geholt hat."