GQ - [Die MSG]

"In der Hand hast du was, Eisbärmann Aldred?" erkundigte sich Amun leise und ließ sich neben dem anderen fallen. Die Flügel das Avior falteten sich umständlich zusammen. Mit beiden Klauenhänden formte Amun eine Schale und trank ein wenig von dem Wasser. Er fühlte sich müde. Obwohl er recht lange geschlafen hatte und eigentlich erfrischt und ausgeruht sein sollte. Vielleicht waren es einfach die Strapazen der letzten Tage und das Wissen, dass sich beständig einen Schritt voraus sein müssen. Vielleicht war es etwas anderes. Wer wusste das schon?
"Hübsch sieht es aus. Behalten solltest du es. Schenken solltest du es einer Nestpartnerin."

Als Eve zu ihrer Wache geweckt wurde, war es noch immer dunkel und nur langsam zog dann der Morgen herauf. Am Liebsten hätte sie direkt weitergeschlafen, doch ihr Pflichtgefühl gegenüber der Gruppe lies dies nicht zu. So setzte sie sich im Schneidersitz hin und besann sich auf die Geräusche und Bewegungen um sich herum.
Irgendwann in der Dämmerung konnte die Priesterin sehen, das Aldred erwachte, sich erhob und sich an einen nahegelegenen Tümpel zurück zog, vermutlich für eine kurze Morgenwäsche. Eve begann bereits zu überlegen, ob sie ihm folgen sollte, da er so lange fort blieb, doch da war es bereits der Vogelmann, der ebenfalls an das Wasser trat. So entschied die Priesterin, einfach zu sitzen und zu warten.

Nachdem die Männer Nina und Tristan verschnürt und auf die Pferde bugsiert hatten, schienen sie keine Zeit verlieren zu wollen und machten sich ebenfalls aufbruchsfertig. Einige Dorfbewohner traten nach draußen oder an die Fenster und beobachteten mit großen Augen, wie die kleine Karawane sich auf den Weg machte. So ritten sie eine ganze Weile, in denen die Zeit für Nina verschwamm und sie sich Vorwürfe machte. Sie würden sie selbst unbeschadet ihrem Vater überbringen und eine Belohnung einstreichen, doch was würde mit Trisan geschehen? Wahrscheinlich würde er hängen. Und ob ihr Vater ihr glauben würde, dass sie noch rein war? Was würde er mit ihr machen? Sie ritt hier in ihrem Nachtkleid durch die morgendliche Frische und keiner der Räubersmänner war genug Mann, um ihr einen Mantel über die Schultern zu werfen oder eine Decke, damit sie ihre Blöße bedecken konnte. Wahrscheinlich gefiel es diesen Barbaren sogar, sie so zu sehen. Da ihre Pferde nebeneinander getrieben wurden, konnte Nina Tristan sehen und suchte Blickkontakt zu ihm. Hatte er einen Plan, der sie befreien würde? Wer von ihnen war denn der Überlebenskünstler?

Selbst ein guter Überlebenskünstler würde sich nicht so einfach aus einer Gefangenschaft wie dieser befreien können. Tristan starrte vor sich auf den Kopf des Pferdes, der sanft vor und zurück schaukelte beim Gehen.
Er arbeitete bereits daran die Fesseln zu lösen. Doch die Männer hatten gewusst wie man ein Seil band. Es war festgeknotet und es war ihm kaum möglich, seine Hände überhaupt irgendwie zu bewegen. Bis er es locker genug hatte, würden Stunden vergehen. Und er musste unauffällig vorgehen. Diese Kerle würden ihn sonst bemerken und dann ... naja ... Er wollte nicht, dass sie die Fesseln noch straffer banden.
Und so richtig zuversichtlich war er nicht wirklich. Im Moment sah die Situation sehr düster aus.

Nachdem Tristan keine außergewöhnlichen Fähigkeiten bewies und sie auch nicht auf irgendeine andere Weise gerettet wurden, die ihnen jetzt gelegen gekommen wäre, ritt die Gruppe etwa eine Stunde lang den Wanderweg entlang, bis sie zu einer Lichtung gerieten, auf der jemand ein schnelles Lager aufgeschlagen hatte. Ein Lagerfeuer mit darauf röstendem Essen und ein wohlhabend aussehendes Pavillionzelt waren in den begrenzten Platz gequetscht worden. Die Gruppe blieb außerhalb stehen, dann half man zuerst Nina vom Pferd und schmiss Tristan etwas gröber als nötig in den Dreck. Zwei Männer hielten ihn fest, einer die Frau, und so warteten sie auf Rekhyt, da der offensichtlich das Sagen hatte. Nach nur wenigen Minuten öffnete sich jedoch das Zelt von selbst und ein dicklicher Herr mit weißen Haaren rannte laut zeternd auf die Leute zu und befahl ihnen, Ninas Fesseln zu lösen und Tristans Knebel zu entfernen. Während er das Mädchen an seine Brust drückte, wandte er sich dem Mann zu. „Du Lüstling! Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“

Tristan knurrte etwas und versuchte einem der Kerle seinen Ellenbogen in den Bauch zu rammen, als er so grob behandelt wurde. Als der Knebel endlich weg war, öffnete erst seinen Kiefer erst ein wenig, um ihn zu lockern, ehe er den Kerl anblickte.
"Ich habe diese Frau nicht entführt. Sie ... Sie ist freiwillig mit mir mitgekommen. Ich wollte sie in dem Dorf in Sicherheit bringen. Ich selbst war auf der Flucht und sah keinen anderen Ausweg als Euch ein Pferd zu stehlen, um am Leben zu bleiben."
Er war sich nicht sicher, ob es überhaupt etwas brachte, sich zu verteidigen, oder ob sein Schicksal sowieso bereits beschlossene Sache war aber als Rekhyt an die Seite des Reichen trat, kannte er die Antwort.
"Bei allem Respekt aber das ist doch einfach nur eine Lüge", sagte Rekhyt. "Natürlich hat er die edle Lady entführt und hätte früher oder später ein Lösegeld für sie gefordert."

Der reiche Mann verzog das Gesicht zu einer Grimasse und drückte Nina noch einmal fest an sich, eher sie von sich zog und ihr eindringlich ins Gesicht schaute. Die junge Frau nahm die Ereignisse geschockt auf und blickte immer wieder von ihrem Vater zu Tristan und wieder zurück. „Stimmt das, was sie sagen?“
„Ich … ich wurde nicht entführt, Vater. Ich bin absichtlich mitgegangen, um ihn zu helfen. Er hat mir das Leben vor Räubern gerettet!“
Dies schien den Herren zu überraschen, denn er musterte Tristan eindringlich. „Aber ich kann nicht wissen, ob er dich nicht berührt hat. Alles, wofür ich hingearbeitet habe, wird umsonst gewesen sein … Ich kann das nicht ungestraft lassen. Was schlagt Ihr vor, Rekhyt?“

"Meine Meinung steht fest. Ich kenne diesen Mann. Er würde niemals die Finger von einer solch reizenden Dame wie ihr lassen. Möglicherweise hat er sie sogar so betrunken gemacht, dass sie sich nicht erinnert. Dieser Mann trinkt und konsumiert Drogen. Wer weiss schon, was er dem armen Mädchen alles eingeflösst hat, damit sie ihm willig ist ..."
Rekhyt schüttelte den Kopf. "Ich würde ihn hängen. Dann kann er keine weiteren Schäden anrichten. Schaut nur, wie verwirrt Eure Tochter ist."
Tristan lagen so einige Dinge auf den Lippen, die er Rekhyt gerne an den Kopf geworfen hätte. Aber in seiner Situation war das vielleicht eher kontraproduktiv.

Mit jedem Wort, das Rekyht sprach, wurde das Gesicht des älteren Herren härter, bis es am Ende einer steinernen Maske glich, die emotionslos auf Nina und Tristan blickte. Die junge Frau biss sich auf die Unterlippe und dachte fieberhaft nach. Wie konnte sie ihren Begleiter nur von einem Schicksal am Galgen retten? „Ich sehe nur eine Lösung, die Sinn ergibt“, meldete sich Nina zu Wort und schluckte, um etwas Zeit zu haben, damit sie ihren Mut sammeln konnte. „Offensichtlich muss Tristan mich heiraten. Wenn er sich an mir vergriffen hat, dann besteht die Wahrscheinlichkeit, dass ich seinen Bastard zur Welt bringe!“ Diese Erkenntis schien ihren Vater tief zu treffen, denn er schnappte hörbar nach Luft. „Ein Bastard! Unser Ruf …!“
„Du hast gesagt, dass nur derjenige, der mein Gemahl wird, mich auf diese Weise berühren darf. Und denk nur daran, was die Leute reden werden, wenn es tatsächlich soweit kommt. Kein Freier wird mich wollen. Ich bin beschmutzt. Es gibt keine andere Möglichkeit.“
„Nun, wenn du dir sicher bist … Tristan, bist du bereit, Verantwortung zu übernehmen?“ Nina seufzte auf. Das war ein guter Plan. Ihren Vater davon überzeugen, dass er keine andere Wahl hatte … und dann verschwinden. Sicherlich würde Tristan mitspielen. Er war doch schlau und bemerkte, dass sie es nicht ernst meinte … oder nicht?

Wenn Blicke hätten töten können, so wäre Nina jetzt vermutlich tot umgefallen. Jedoch nicht wegen Tristan, sondern wegen Rekhyt, der den Söldner offenbar nur allzu gerne hangen gesehen hätte.
"Das ist absurd. Ich würde sie ebenfalls zur Frau nehmen und den Bastard als den meinen anerkennen", meinte er.
Tristan war ein wenig versteinert und blickte von Nina zu ihrem Vater und Rekhyt, der nicht gerade glücklich schien.
"Nun ... Wenn das die einzige Lösung ist mit der ich ...am Leben bleibe, werde ich sie natürlich gerne heiraten ..." Wer würde das schon nicht?

"Ihr würdet also beide Nina als eure Frau nehmen? Nun, ich weiß nicht allzu viel über euch. Nina, Liebes, geh doch ins Zelt und wirf dir etwas über. Und ihr beiden erzählt mir von euren Referenzen. Und denkt euch lieber etwas gutes aus. Tristan, dein Leben hängt am seidenen Faden!" Dramatisch mit den Händen wedelnd, scheuchte er Nina davon, wo sie sogleich von einigen Dienern empfangen und in das Pavillionzelt geschleift wurde. Dort würde man sie wahrscheinlch baden und ihre Haare in Ordnung bringen. Ihr Vater hatte dafür keinen Blick übrig. Stattdessen musterte er die beiden Männer eindringlich. "Es geht hier um eine nicht unbeachtliche Erbschaft."

Die beiden Männer wechselten einen Blick. Natürlich wollten sie beide die Frau. Rekhyt, damit er endlich ausgesorgt hatte für sein Leben und vor allem auch, damit Tristan für seine Vergehen endlich hing. Und Tristan wollte sie, damit er nicht hängen musste.
"Ich habe Nina bereits vor einigen Banditen gerettet, wie sie es gesagt hat. Ohne mich wäre sie tot oder ... Schlimmeres. Sie ist mir gefolgt und ich habe alles gegeben, damit es ihr gut geht." Tristan atmete tief durch. "Ich würde ihr ein guter Ehemann sein. Mich kennt sie auch. Wer weiss schon, wie er sie behandeln würde?"
Rekhyt schnaubte.
"Ich besitze Pferde und etwas Land, sowie ein kleines Haus. Sie wäre bei mir ausserordentlich gut aufgehoben", sagte er. "Und ich bin kein Rüpel im Gegensatz zu dieser Kreatur da drüben."

Neythani reckte und streckte sich und gähnte dann herzhaft. Sie hatte sich zusammengerollt, so gut es ging und so ihre Hände und füsse vor der kälte geschützt. Sie sah, das die anderen bereits wach waren, also stand sie auf und streckte sich nochmal ausgiebig. "Wollen wir weiter?", fragte sie in die runde.

Überrascht blickte Aldred auf, als Amun'Raak in ansprach. Er war so in Gedanken versunken gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, wie der Avior sich ihm genähert hatte. "Ich habe es bei einem der Schwarzen gefunden", erzählte er, "Ich glaube, er war ihr Hauptmann. Er hatte es um den Hals hängen. Es ist mir aufgefallen. Es wirkte irgendwie falsch an ihm. Soetwas habe ich noch bei keinem anderen von ihnen gesehen. Vielleicht hat er es geplündert. Aber da ist noch mehr daran. Etwas... faszinierendes. Ich kann es selber nicht sagen, was es ist." Fragend blickte er Amun'Raak an, ob dieser ihm nicht vielleicht eine Erklärung liefern konnte.

"Hübsch ist es, sicher. Solltet es vielleicht zu einem Juwelier bringen. Um Preis zu erfahren, heh?", antwortete Amun und zuckte mit den Schultern. Er selbst sah nichts besonderes an den Amulett, außer dass es hübsch war. Einem Elster-Avior würde vermutlich das Wasser im Schnabel zusammenlaufen. Aber ihn interessierte das weniger. Schmuck störte beim Fliegen oder verhedderte sich in den Federn. Und für Ringe waren die Krallen der Avior einfach nicht wirklich geeignet. Aber einem Menschen mochte es vielleicht gefallen. Oder irgendjemandem von den anderen Spezies.
"Behalten solltest du es vielleicht, wenn es dir gefällt so sehr. Oder verschenken. Nicht weiß ich es."
Der Avior warf einen Blick zurück über seine Schulter.
"Wach sind die anderen. Sollten zurück gehen."
Langsam erhob sich Amun und hielt Aldred eine Hand hin.

Nein, das war es nicht. Es war nicht der Wert des Schmuckstücks, der Aldred so faszinierte. Obwohl er als Mann, der den Großteil seines Lebens in der Schmiede verbracht hatte, die Handwerkskunst zu schätzen wusste. Ebenso wie die Güte der Materialien. Ohne Zweifel hatte Amun'Raak recht: der Anhänger besaß sicher einen nicht geringen Wert. Aber da war noch mehr daran. Nur was?
Mit leisem Seufzen verstaute Aldred den Silberstern wieder in seinem Beutel und erhob sich, dabei die Hand des Aviors ergreifend. Auch hiermit hatte Amun'Raak recht: sie sollten zurück. Sie mussten aufbrechen. Ihr Weg war noch weit, zweifellos. Und sie hatten nicht viel Zeit. Seite an Seite gingen die beiden zurück zu ihrem Lager, wo sie ihre Gefährten, wie Amun'Raak versprochen hatte, wach und aufbruchbereit vorfanden.

Eve sah Neythani eine Weile an, bevor sie schließlich den Kopf schüttelte.
"Wir sollten erstmal frühstücken. Gut gestärkt übersteht man den Tag leichter." Sie hielt einen Moment inne, bevor sie mit besorgter stimme fortfuhr. "Und wir sollten jeden Moment nutzen, den wir können, um uns zu stärken. Wer weiß, wann die schwarzen Krieger wieder angreifen..."
Sie schauderte bei dem Gedanken, dass dies vielleicht ihre letzte, ruhige Nacht gewesen war, denn fit war sie definitiv noch nicht wieder. Und diesen Tag wieder marschieren zu müssen würde ihrer Erholung auch nicht gerade zuträglich sein.

Sie stärkten sich an den Resten des gedörrten Rehs und brachen dann auf, fünf einsame Gestalten, bald verloren gegenüber den schier endlosen weiten des Waldes. Bald verloren sich die rudimentären Ansätze von Pfaden, die es entlang des Waldrandes noch gegeben hatte, im dichter und dichter werdenden Unterholz und sie kamen nur noch einer hinter dem anderen laufend voran. Aldred, der massigste und kräftigste von ihnen ging voran, brach ihnen einen Weg durch Gestrüpp und Buschwerk. Nichtsdestotrotz kamen sie nur langsam voran. Und es war so finster! Selbst am helllichten Tag hing der Wald voller Schatten, die alles darin zu erdrücken schienen. Licht, wo es vereinzelt durch das Blätterdach brach, spielte ihnen böse Scherze, ließ Bewegungen erahnen, wo doch nichts war und zeichnete Bilder, die nur in ihren Köpfen existierten. Die Stimmung war bedrückt. Schweigsam stapften sie voran, einer nach dem anderen, unruhig, immer auf der Hut vor Gefahren, die doch nicht da waren. Doch wohin sie gingen, das hätte Aldred – wenngleich er es war, der voraus lief – nicht sagen können. Sie hatten keine Richtung, kein Ziel. Wie nur sollten sie zu diesem Tempel gelangen, wenn sie nicht wussten, wo in diesem endlosen Wald er sich befand?

Neythani fühlte sich fast wie zuhause. Ihr Heimatdorf war auch in einem Wald gewesen. Dieser war zwar nicht soo dunkel, wie jener, den sie gerade durchquerten, aber er war ähnlich. Ihre Nase vibrierte entzückt wegen der vielen geräusche und ihre Ohren zuckten unentwegt und saugten jedes Geräusch ein. Sie spürte die Macht dieses Waldes, spürte die Präsenz des Tempels der Erdgöttin Luhane. Sie kamen immer näher. "Wir sind auf dem richtigen Weg, Aldred. Wir werden ihn bestimmt finden."

Missmutig stapfte Eve hinter Neythani her, die dicht hinter dem Schmied lief. Ihr Kopf schmerzte noch immer dumpf und sie vermisste ihr Schwert. Würden sie in diesem Wald kämpfen müssen, so hätte sie allein mit ihrer Hellebarde sicherlich schlechte Karten.
"Na, wenigstens Eine, die zuversichtlich ist", meinte sie, etwas mürrisch. Sie bevorzugte es eigentlich, ruhig und besonnen zu wirken, aber die Kämpfe der letzten Tage und nun auch die Dunkelheit dieses Waldes drückten auf ihr Gemüt.

Sie trotteten weiter voran, Schritt für Schritt, Stunde für Stunde, Tag für Tag, immer weiter, durch die immer gleichen Dickichte, vorbei an den immer gleichen Buchen, Kiefern und Eichen, mal Hügel hinauf, mal hinab, entlang von Bächen oder Talsohlen. Rot und schwarz gefiederte Spechte, pelzige Eichhörnchen und katzengroße, grüngeschuppte Drachlinge sprangen über ihren Köpfen von Baum zu Baum oder beobachteten sie aufmerksam, an den Stämmen hängend, doch ansonsten wirkte der Wald gespenstisch verlassen. Sie begegnetem nicht einer Menschenseele, sahen nicht einmal Spuren, Überreste abgebrochener Lager. Die Tage verschwammen ineinander, einer wie der andere führte er Weg sie unter dem dichten Blätterdach entlang.
"Wie lange sind wir nun schon in diesem Wald?", fragte Aldred unvermittelt, als sie eines Abends wieder einmal zwischen mannshohen Wurzeln ihr Lager aufschlugen. War es schon eine Woche? Mehr? Oder vielleicht doch nur vier, fünf Tage? Er hätte es nicht mehr sagen können. Er hätte auch längst nicht mehr sagen können, ob ihr Pfad der richtige war. Doch Neythani wirkte zuversichtlich.

"Zu lange...", murmelte Eve. Ihre Kopfschmerzen waren nach zwei Tagen verschwunden gewesen, aber die Dunkelheit hielt die Stimmung gedrückt. Der Meinung der Priesterin nach war es nur der schützenden Hand Zyns zu verdanken, dass sie seit der Brücke keiner weiteren, echten Gefahr begegnet waren. Mancheiner hätte sich wohl gefürchtet vor dem Heulen der Wölfe bei Nacht, dem krächzen der Raben am Tag, doch zumindest in dieser Gruppe schien es bodenständige Personen zu geben, die vor diesen Geräuschen nicht erschraken. Da hatte Eve schon ganz Anderes kennen gelernt.
"Neythani, was glaubt Ihr, wie weit ist es noch? Hat.. die Göttin Euch ein weiteres Zeichen gesandt?" Sie sprach bewusst den Namen der Göttin, an die sie glaubte, nicht aus. Diese Personen glaubten an andere Götter. Falsche Götter... Sie würden noch die Wahrheit erkennen, da war sich Eve sicher.

"Ein Zeichen wurde mir leider noch nicht gesandt," erwiderte Neythani. Hungrig verspeiste sie eines der letzten Rehfleisch stücke. Bis jetzt waren ihnen aber leider noch keine weiteren Tiere über den Weg gelaufen. "Aber es ist nicht mehr all zu weit. Im laufe des Tages müssten wir auf die ersten Mauerreste des Tempels stossen."

Die Nacht verlief recht ruhig und nach einem kargen Frühstück marschierte die Gruppe weiter.
Gegen Mittag stießen sie auf eine Alte Mauer und Säulen, die von Kargem Licht erhellt wurden.
Es schien fast so, als sei hier das Blätterdach etwas durchlässiger. Die Säulen und die Mauer schienen eine art Tor zu bilden, so wie sie da standen. Neythani ging an den Säulen vorbei und lächelte. Die Bäume schienen hier auch nicht so dicht bei einander zu stehen wie vorher, obwohl hier im licht doch eigentlich mehr pflanzen sein müssten. Es sah für Neythani so aus, als würden die Pflanzen aus Ehrfurcht den Mauerresten fern bleiben. Bald tauchte auch die Ruine des Tempels vor ihnen auf.
Das Eingangstor stand offen, einige Schlingpflanzen hingen hier und da herum und Farne hatten den Boden für sich beansprucht. Neythani konnte einige kleine Feuer erkennen und hörte stimmen, die aus dem Gebäude drangen. "Wir sind da. Der Tempel Luhanes.."

Die Stimmen, die zu hören waren, als sie endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, den Tempel erreichten, verwirrten Eve. Nach der relativen Stille des Waldes waren es seltsame Geräusche. So fremd. Und irgendwie fehl am Platz.
"Wer ist da wohl?", fragte sie leise ihre Gefährten. "Meint ihr, die schwarzen Ritter könnten schon hier sein?" Sie hoffte, dass es vielleicht einfach Wesen von dem Volk waren, dass ihnen von diesem Tempel erzählt hatte. Doch um sicher zu sein würden sie nachschauen müssen.

"Keine Feuer brauchen die Schwarzen Ritter", schaltete sich Amun ein. Tatsächlich war er sich nicht einmal sicher, ob sie Nahrung oder Rast benötigten. Bisher sprach nichts dafür. Die Schwarze Heerschar erschien nun einmal nicht einmal wirklich lebendig zu sein. Vorsichtig setzte Amun einen Fuß vor den anderen. Im Tempel Derias würde er nicht in den Wind spucken und hier würde er keine Pflanzen zertreten. Das war einfacher Respekt.
Andererseits mochte es sich dabei um eine Falle handeln. Und im Tempel würde er nicht fliegen können. Dafür war einfach nicht genug Platz da. Zumindest sah es bisher so aus. So weit konnten nicht einmal seine Avioraugen in den Eingang gucken. Das Bild verschwamm kurz vor seinen Augen, zeigte den Eingang in einer blütenverhüllten Pracht. Menschen drängten sich davor. Gleich darauf war der Spuk vorbei und Amun blinzelte in das Dunkel.
"Glaube nicht, dass es eine Falle ist. Kein Feuer bräuchte die Schwarze Heerschar für eine Falle. Nur uns hilft es. Im Dunkeln können sie sehen."