Kyusta (MSG)

Es gab kaum ein Fest auf Rhoron, das grösser war und länger dauerte, als die Trauung des neuen Königpaares. Zehn Tage lang wurde gefeiert, getrunken und getanzt. In diesen Tagen war es wieder soweit. Schon Wochen zuvor waren einige Ankinu, die längst mehr als hundert Jahre gelebt hatten, wieder einmal auf ihre Kyusta gesessen und hatten überall auf der Insel die Nachricht verbreitet, dass die Vermählung bald soweit sei. Jeder und jede Ankinu war zu diesem Fest eingeladen. Die meisten kamen auch zu diesem Fest, um dem frischen Brautpaar alles Gute zu wünschen und die Vermählung ordentlich zu begiessen.
Die Boten erreichten natürlich nicht jeden Ankinu, der irgendwo in der Wildnis gerade seine Abenteuer bestritt. Doch jene, die die Nachricht erhielten, beeilten sich in aller Regel, den Ort der Vermählung rechtzeitig zu erreichen.
Diesmal reiste die Tochter des Königs von Zekora nach Curtis, um dort ihren auserwählten Gemahl zu ehelichen. Das Fest war riesig. Gigantisch.
Sayeth erreichte die Stadt am sechsten Tag. Sie liess Raykin etwas abseits des grössten Trubels landen und stieg aus dem Sattel. "Gutes Mädchen. Na los, geh was jagen", forderte sie ihre Kyusta auf und zog die Gurte des Sattels nochmals nach, damit er auch wirklich hielt, wenn Raykin auf der Jagd war. Raykin stupste sie mit der Schnauze kurz an, trat dann zwei Schritte zurück und begab sich wieder in die Lüfte.
Sayeth atmete erstmal tief durch. Der Geruch von gebratenem Fleisch, Alkohol, Rauch, Staub und Schweiss lag in der Luft. Ein angenehmer Wind wehte um die Ecken und Kanten der Häuser.
Mit einem leichten Grinsen stürzte die Rothaarige sich in die Menge. Das Gedrängel war gross, sie kam kaum vom Fleck. Immerhin war sie nicht allzu klein und hatte Kraft genug, sich zwischen den schwitzenden Leiber durch zu kämpfen. Sie erreichte den grossen Platz in der Mitte der Stadt gerade, als einige Tänzerinnen auftraten. Fasziniert beobachtete sie den Tanz, während sie sich zu einem Tisch durchkämpfte. Mühselig pflanzte sie sich zwischen zwei Männer und griff nach einem herrenlosen Bierhumpen, um sich dem Johlen der Feiernden anzuschliessen.
Nach einer Weile verliessen die Tänzerinnen den Platz und das frisch vermählte Königspaar trat in die Mitte. Das Publikum tobte, einer der beiden Männer an Sayeths Seite sprang auf und goss ihr dabei versehentlich etwas Bier über den Kopf. Sie störte sich nicht daran. Im Gegenteil. Sie johlte nur noch lauter, schrie dem Paar Glückwünsche entgegen, ehe sie den Humpen in einem Zug leerte.
Irgendwo begannen einige Musiker ein Lied anzustimmen und König und Königin begannen einen Tanz. Der Tanz erntete Beifall, Pfiffe und jede Menge Applaus. Als das Lied endete, trennten sich die beiden und der König suchte sich eine Dame aus den Reihen des Publikums aus, um mit ihr zu tanzen. Die Königin tat es ihm gleich, auch wenn sie einen Mann aussuchte.
Bei jedem Lied ging es so weiter und irgendwann fühlte sich der Platz mit tanzenden Paaren. Jene, die nicht tanzen wollten oder nicht gefragt wurden, bildeten einen Kreis, assen und tranken und johlten.
Sayeth hatte sich mittlerweile erhoben, mit dem leeren Bierhumpen in der Hand und sie kaute auf einem Stück Brot herum, während sie die Tänzer beobachtete.

Es war der sechste Tag der Festivitäten, doch das hieß nicht, dass die Feierlaune in irgendeiner Art auch nur annähernd bereits nachgelassen hätte. Im Gegenteil! Seinen Höhepunkt würden die Feierlichkeiten selbstverständlich erst am letzten der zehn Tage erreichen. Die Ankinu waren ein lebenslustiges Völkchen und die Stadt Curtis hatte sich mächtig ins Zeug gelegt, für genug Kurzweil zu sorgen, sodass niemand die Lust am Feiern vor Ablauf des zehnten Tages verlieren würde. Sämtliche Keller waren geöffnet und geplündert worden, überall in der Stadt roch es nach Essen, es dampfte, es brutzelte und Bier, Wein und Drachenbeerensaft flossen in rauen Mengen. Die Straßen und Gassen waren so vollgestopft mit Gästen und fremdartigen Gestalten aus allen Teilen Rhorons, dass man sich nur mit Mühe bewegen konnte, doch niemand schien sich daran zu stören.
Mirabelle D'avahir, die auf ausdrücklichen eigenen Wunsch von allen nur Mira gerufen wurde, war bereits vor Beginn der Festivitäten in der Stadt eingetroffen. Wie hätte sie auch nicht hier sein können? Immerhin war Curtis ihre Heimat und welcher Ankinu konnte schon von sich behaupten, eine königliche Vermählung in seiner eigenen Heimatstadt miterlebt zu haben? Um nichts in der Welt hätte sie sich davon abhalten lassen, hier zu sein! Sie war zu diesem Anlass wieder bei ihren Eltern eingezogen - ein Herbergszimmer zu finden war derzeit ein Ding der Unmöglichkeit - und hatte vom ersten Tag an gefeiert. Sechs Tage lang. Von morgens bis abends. Auch an diesem sechsten Tag war sie gemeinsam mit dem ersten Strahl der aufgehenden Sonne auf die Straße getreten - an Schlafen war bei all dem Trara in den Straßen ohnehin nicht zu denken - und hatte sich ins Leben gestürzt. Sie hatte gelacht und gesungen, ein halbes Dutzend ihr nur flüchtig oder gleich überhaupt nicht bekannter junger Männer geküsst und bis zur Erschöpfung getanzt. Dann hatte sie sich bei einer Gruppe ihr unbekannter Wa'ankinu und Einheimischer auf einer Bank nieder gelassen, die schlanken, eleganten Stiefel, die sie extra für das Fest hatte anfertigen lassen, von den Füßen geschleudert und sich von einem sichtlich angetrunkenen Grünhaarigen einen Kelch Wein spendieren lassen. Es war nicht der ersten Kelch an diesem Tag, obwohl es noch nicht einmal Mittag war und langsam stieg der Alkohol ihr zu Kopf und rötete ihre Wangen. Mira wusste wie sie wurde, wenn sie zu viel getrunken hatte, doch in diesen zehn Tagen der Ausgelassenheit war es ihr gleich, welche Dummheiten sie begehen würde. Soetwas erlebte man nur einmal im Leben! Also hieß es doch, das Leben aus vollen Zügen zu genießen. Und so genoß sie aus vollen Zügen den süßen Wein, tränkte ihre vom hitzigen Tanzen ausgetrocknete Kehle und ließ in einem beinahe tranceartigen Zustand der Glückseligkeit die geballte Heiterkeit der Umgebung auf sie eindringen.

Gin ließ den Blick über die Menschenmenge schweifen. Seine Aufmerksamkeit galt eher dem Krug Bier in seiner Hand als den tanzenden Paaren, die sich auf dem großen Platz in ewigen Kreisen drehten. Geistesabwesend strich er sich ein paar Krümel von der Lederweste, die er extra für den besonderen Anlass angezogen hatte, stumme Zeugen seines erst vor wenigen Minuten beendeten Bades in den tausenden Köstlichkeiten des Büffets. Seine Gedanken waren bei Shira, die direkt nach ihrer Ankunft vor einigen Stunden wieder losgeflogen war und sich nun außerhalb der Mauern von Curtis ein eigenes Abendessen besorgte. Hoffentlich ließ sie dieses Mal die Vögel in Ruhe, es war nicht unwahrscheinlich, dass ein großer Teil der gefiederten Tiere, die man in Curtis an jeder Ecke traf, Kyusta der ansässigen Ankinu waren. Gin konnte sich einen angenehmeren Zeitvertreib vorstellen, als irgendeinem wütendem Vra'Ankinu zu erklären, warum er seinen Kyusta im Maul einer gewaltigen Drachendame wiedergefunden hatte.
Gin verschluckte sich fast an dem Zug Bier, den er gerade seinem Krug entnommen hatte, als sein Blick auf die rothaarige Frau fiel, die, mit einem Stück Brot in der Hand, die Tänzer beobachtete. Hustend stützte er sich auf dem Geländer ab, vor dem er stand, und wischte sich die übrig gebliebenen Tropfen Bier vom Mund. Dann hob er den Blick wieder. Ohne Zweifel, das war Sayeth! Lächelnd schob Gin sich durch die Menschenmenge, die johlend den tanzenden Paaren auf dem Platz zusah, bis er schließlich nach einigen Minuten direkt neben der Dra'Ankinu zum Stehen kam. Mit einem breiten Grinsen stieß er sie an und brüllte ihr eine Begrüßung ins Ohr, eine andere Form der Verständigung wäre bei dem Krach, den die Menge verursachte, nicht gerade von Erfolg gekrönt gewesen: „N'abend Sayeth! Na, du konntest dich ja wirklich von deiner Trophäenjagd lösen! Shira und ich hatten schon eine Wette am Laufen, ob du und Raykin hier überhaupt auftauchen würdet!“

Sie grinste. Die kurzen Augenblicke, in denen er ihr Gesicht in der Masse herumwirbelnder Leiber erspähen konnte, reichten aus, um eine ungefähre Vorstellung von der Breite des Grinsens zu bekommen. Selbst der dickst geschminkteste Clown würde von diesem Grinsen verdrängt werden und vermutlich Met trinkend und schluchzend an einer Bar hängen. Es war kein freundliches Grinsen. Vielmehr wie das Grinsen einer Katze, die eine neue Spezies Maus entdeckt hat und nun zusieht, wie das kleine Geschöpf Kapriolen vollführt, zur Belustigung der Katze. Es war ein Grinsen das besagte "All das hier ist ein Witz und du hast ihn nicht verstanden".
"Ist etwas nicht in Ordnung?", fragte die durchaus hübsche Wra'Ankinu in Myrns Armen. Ihr Gesicht zeigte kein Grinsen, sondern vielmehr ein besorgtes Lächeln. Myrn bemühte sich um einen freundlichen Gesichtsausdruck.
"Ich habe nur nach meinem Kyusta Ausschau gehalten. Sie bringt sich immer in Schwierigkeiten."
"Sie wird schon eine Weile allein zurecht kommen." Myrn bemerkte, dass die junge Frau ihn näher heranzog. Vermutlich würde Alyn wirklich eine Weile alleine zurecht kommen.

"Ich schwöre, wenn du sowas noch einmal machst, kriegst du eine Dusche", meckerte Myrn seinen Kyusta an. Alyn grinste immer noch. Die Leopardin hatte ihren Seelenpartner direkt in die Arme der jungen Frau geschubst und war recht zufrieden mit sich und der Welt. Außerdem hatte sie ein Stück Fleisch im Maul, was das Grinsen allerdings keineswegs unterbrach, sondern vielmehr noch makabrer wirken ließ. Erschwerend kam hinzu, dass die Leopardin fühlen konnte, dass Myrn keineswegs böse war, sondern eigentlich auf Wolke sieben schwebte. Die Tirade war vielmehr reine Gewohnheit, denn aus wirklichem Ärger geboren.
"Ich hätte sie zu Fall bringen können und wie dumm hätte das dann ausgesehen, hm?" Irgendwie schaffte es Alyn ihr Grinsen noch breiter werden zu lassen. Augenscheinlich erheiterte sie die Vorstellung von einem Myrn, der sich zusammen mit der jungen Frau gepflegt auf das Pflaster legte. Myrn kraulte die Katze hinter dem Ohr. Irgendwie hatte er auch Hunger. Dem Sonnenstand nach zu urteilen hatte er mindestens eine Stunde getanzt. Das war also kein Wunder.
"Gehen wir uns etwas zu essen suchen, hm?"

Niyah beobachtete fasziniert die tanzenden Paare, die so schnell herumwirbelten, dass es ihr wie ein Wunder vorkam, dass bisher noch niemand verletzt worden war, es musste ja schließlich immer wieder zu Zusammenstößen kommen. Doch dieses Fest hatte eine eigene Dynamik, die tanzende Menge einen Rhythmus, den sie nicht verstand.
Noch weniger verstand sie, wie alle Ankinu um sie herum noch so gute Laune haben konnten, wo doch schon mehr als die Hälfte des Fests herum war. Es war der sechste Tag der Feierlichkeiten und die meisten wirkten nicht so, als wären sie auch nur angeschlagen, dabei wusste Niyah wie man sich schon nach einer durchfeierten Nacht fühlte.
Sie holte sich einen Humpen Bier und versuchte sich irgendwie durch die Menge zu bewegen, was gar nicht so leicht war. Zwar konnte sie aufgrund ihrer Körpergröße gut kleine Lücken ausnutzen um sich so schneller fortzubewegen, allerding stießen immer wieder Leute an ihren Krug, sodass ihr das kühle Bier über die Hände schwappte.
Nein, sie musste sich irgendwo am Rand einen Platz suchen, da wo es ruhiger war. Solche Feiern waren für Niyah nett anzuschauen, sie stand gerne einfach da und unterhielt sich mit Leuten, das ging ja, es war nur zwangloses Gerede und dann sah man sich nie wieder, tiefergehende Gespräche kamen eigentlich nie vor. Fürs Tanzen war sie da schon weniger zu haben.
Hastig trank sie einen Schluck aus ihrem Krug, damit er nicht mehr so leicht überschwappte und schaute sich dann suchend um. Bei diesen Festlichkeiten, da musste es ja irgendwo Leute geben, die sie kannte, Leute, mit denen sie zusammen feiern konnte.
Sie bedauerte, dass sie erst heute, am sechsten Tag der Feier, hatte kommen können, doch sie war vorher bei ihren Eltern zu Besuch gewesen und da dieser Besuch lange geplant war, hatte sie es nicht übers Herz gebracht, den Termin zu verschieben oder zu verkürzen, sie sah ihre Familie ja selten genug.
Schließlich erspähte sie sandfarbene Haare und schaute genauer hin, um etwas zu erkennen. Tatsächlich! Niyah hüpfte vor Freude kurz auf und ab, während sie sich ihren Weg durch die Menge bahnte, auf das Mädchen zu, dessen Wangen sich langsam rot färbten.
„Sieht man dich auch mal wieder!“, rief sie ihr zu, als sie direkt neben ihr stand. Sie musste beinahe schreien, um die Musik, das Getrappel der tanzenden und die anderen Stimmen zu übertönen.

Beinahe hätte Sayeth zu schmollen begonnen, weil sie nicht nach einem Tanz gefragt wurde. Sie kam aber nicht dazu, zu schmollen, denn auf einmal wurde sie kurz angestossen. Gerade wollte sie den Kerl scherzhaft zurechtweisen, als die ihn als Gin erkannte. Und seine Worte zauberten ein breites Grinsen auf ihr Gesicht.
Nachdem sie die erste Schrecksekunde überwunden hatte, lachte sie auf. "Gin? Ach du meine Güte, lass dich drücken", rief sie und umarmte ihn dann auch gleich fest. Gleichzeitig küsste sie ihn auf die Wange, ehe sie ihn losliess.
"Ich schwör dir, ich war fast am anderen Ende der Welt, als der Bote mich fand. Ich hab da grad nen Knirschhai erlegt gehabt und hab in dessen Gedärmen rumgewühlt. Wie ich so mit blutigen Händen dagestanden bin und von der Hochzeit erfahren hab. Du hättest mich sehen sollen, wirklich! Und dann musste ich erst mal das köstliche Fleisch von dem Vieh loswerden. Einen Teil konnte ich noch einsalzen und der Rest hat Raykin gefressen und dann bin ich so schnell wie möglich hierher gekommen. Hat aber leider eine Weile gedauert, deshalb bin ich erst jetzt gekommen", erzählte sie ihm schreiend, ob er es nun hören wollte oder nicht.
"Und du?"



Als Sohn eines Clanführers hatte man natürlich anwesend zu sein. Und zwar die vollen zehn Tage. Von Anfang bis am Ende. Es war nicht so, als hätte Evarim sich die letzten Tage bloss gelangweilt. Nein, im Gegenteil. Er mochte die fröhliche Gesellschaft und ausserdem durfte er in einem der besseren Gasthäuser in Curtis residieren.
Zu Beginn hatte er sich sehr reserviert verhalten, war stumm an seinem Ehrenplätzchen gesessen und hatte gegessen. Ein Häppchen von diesem und ein Häppchen von jenem. Nie zuviel, damit auch von jeder Speise ein wenig probiert werden konnte.
Doch irgendwann war die fröhliche Stimmung tatsächlich auf ihn übergesprungen und er hatte damit begonnen zu tanzen. Mädchen um Mädchen, gar die Königin selbst, beglückte er mit seinen Tanzkünsten und schmierte ihnen allen mit charmanten Worten Honig ums Maul.
Die eine oder andere hatte er bei sich im Bett gehabt. Das war auch nicht schlecht gewesen und er durfte sowas ja. Nur leider hatte er noch keinen Mann gefunden, der mit ihm hätte das Bett teilen wollen, was schon beinahe wieder frustrierend war.
Am sechsten Tag wählte er nicht die edelste Kleidung. Nein, diesmal tat es banaler Leinenstoff und Wolle auch. Er wollte sich erneut ein wenig mehr unters Volk mischen und irgendwann landete er abermals auf dem Tanzplatz. Hin und wieder erblickte er bekannte Gesichter, doch eher selten ging er auf jemanden zu.
Gerade verbeugte er sich knapp vor einer Dame, nahm ihre Hand, küsste sie und forderte sie somit zu einem neuen Tanz auf.

"Niyah!" Mira hatte die Freundin nicht bemerkt ehe sie neben ihr stand, doch die Überraschung ließ die Freude nur noch weiter anwachsen. Wie lange hatten sie sich nicht mehr gesehen? Ein halbes Jahr? Mindestens! Wie hatte sie sie vermisst! Und wie hatte sie gehofft, dass sie sich zu diesem Anlass treffen würden! Dem freudigen Impuls folgend sprang sie auf um sich der Freundin in die Arme zu werfen und stolperte dabei über - ja, über was eigentlich? Sie war nicht so ganz sicher, ob es die Bank oder doch ihre eigenen Stiefel, die sie achtlos dort unten abgelegt hatte, waren. In jedem Fall fiel sie der Länge nach hin - oder wäre wohl gestürzt, hätten sich im dichten Gedränge nicht augenblicklich helfende Hände gefunden, die sie auffingen und ihr wieder auf die Beine halfen. Berauscht wie sie war empfand Mira dabei jedoch weder Schreck, noch auch nur Verwunderung. Lediglich ihre Frisur, die seit dem Morgen ohnehin bereits sichtlich gelitten hatte, war noch mehr durcheinander geraten. Mit einer beiläufigen Geste strich sie sich die losen Strähnen aus dem Gesicht, strahlte dankend in die Runde und erinnerte sich dann wieder, weshalb sie überhaupt aufgesprungen war. Die Arme so weit ausbreitend, wie das in der Ankinumenge möglich war warf sie sich der Freundin entgegen und drückte sie an ihre Brust. "Wann bist du angekommen? Wo bist du überhaupt gewesen? Du musst mir alles erzählen!", sprudelte es aus ihr heraus, "Hast du eine Unterkunft? Du kannst bei mir schlafen! Wir bleiben die ganze Nacht lang auf, bis zum Morgengrauen. So wie früher!"

Wie die vielen anderen Ankinu - genaugenommen fast alle auf der ganzen Insel - liess auch Nawri sich das Fest nicht entgehen. Eher weniger, weil die Vermählung des Königs und der Königin ihn interessierte, vor allem wegen des kostenlosen Essens, der Möglichkeit, nichts zu tun und weil sowieso fast jeder hier war. Seine Eltern hatten ihn förmlich dazu gezwungen, mitzukommen. Sie hofften, dass er von hier wieder auf seine Reisen aufbrechen würde, nachdem sein erster halbherziger Versuch damit geendet hatte, dass er sich wieder Zuhause einquartierte. Unwahrscheinlich war es natürlich nicht, dass er hier auf jemanden traf, de er kannte. Aber es war eindeutig zu anstrengend. Die Kapuze über den Kopf gezogen sass Nawri an einem der langen Tische und hatte den Kopf auf die Tischplatte gelegt. Ein leises Schnarchen drang aus seinem Mund, aber das war im allgemeinen Lärm kaum auszumachen. So hatte er die grösste Zeit an diesem Fest verbracht. Zwischendurch hatte er sich grosszügig an den Speisen bedient, die überall bereitstanden oder zubereitet wurden und sich vor bekannte Gesichtern versteckt. Er wollte möglichst nicht erkannt werden, seine erste Reise hatte ihm gereicht. Zu aufwändig.
In der Zwischenzeit tat sich ein etwas zu kurz geratener Honigdachs an dem grossen, gebratenen Schwein gütlich, dass vor dem schlafenden Nawri stand. Mit Knurren und Fauchen hielt er jeden fern, der sich seiner Beute zu nähern versuchte, was schon der eine oder andere Ankinu schmerzhaft hatte erfahren müssen. Ein grosses Loch an der Unterseite des Tieres zeugte von seiner Arbeit und das Tier selbst war bis zu den Füssen mit Fett getränkt, was ihn aber nicht weiter zu stären schien. Schliesslich war er satt, wuselte aber noch einmal aus Prinzip um das Schwein herum und knurrte jeden an, der zu nahe war. Dann gab er seine Beute auf und kehrte zu seinem Seelenpartner zurück, um diesen mehrmals anzustupsen.
"Mmmmh... Miilaa...", murmelte Nawri nur, rührte sich aber nicht. Mila gab aber nicht auf stupste noch ein wenig heftiger, was aber nicht zum gewünschten Ergebnis führte. Mit einem frustrierten Knurren gab der Honigdachs auf und kletterte auf Nawris Kopf, wo er es sich bequem machte und wahrscheinlich eingeschlafen wäre, hätte das herablaufende Fett Nawri nicht doch noch geweckt. Er hob vorsichtig den Kopf und griff dann erstaunlich schnell nach hinten, um Mila zu packen, damit dieser nicht herunterfiel. Mit einem nicht ganz so dankbaren Fauchen bedankte sich das Tier und wollte dann wieder hochklettern. Nawri liess es zu, obwohl er geistesabwesend feststellte, dass er ihm den ganzen Mantel mit seinen fetttriefenden Pfoten versaute. Er würde das wohl putzen müssen. Später. Irgendwann.
Nach seinem Nickerchen durstig griff Nawri nach dem nächst besten Bierkrug. Dieser war noch halbvoll und er leerte ihn mit einem Zug, wobei er sich ein wütendes Fauchen und ein paar hübsche Löcher in seiner Kapuze einbrachte, als er den Kopf nach hinten neigte. Nachdem sein Durst gestillt war, wollte er sich gerade dem Schwein vor sich zuwenden, an das sich bisher noch niemand anderes herangetraut hatte, als der Honigdachs auf seinem Kopf einen grossen Satz machte und irgendetwas mit lautem Fauchen ansprang. Etwas verwundert wandte der Ankinu den Kopf und sah seinen knurrenden und fauchenden Kyusta einem Schneeleoparden gegenüber, daneben ein bekanntes Gesicht.
"Ooh", machte Nawri. Mist. "Du auch hier, Myrn?"

Gin hatte die ganze Erzählung Sayeths mit einem breiten Grinsen verfolgt. Als sie bei der Stelle mit dem Eintreffen des Boten angelangt war, hatte er den Kopf zurückgeworfen und war in dröhnendes Gelächter ausgebrochen, das sogar die lautstarken Jubelrufe der nahen Menge übertönte. Man konnte sich einfach zu gut vorstellen, wie verstört der arme Bote gewesen sein musste, als er Sayeth gesehen hatte, wie sie mit blutverschmierten Händen und ihren flammend roten Haaren über den Überresten irgendeiner großen Bestie stand.
„Da kriegt man ja richtig Mitleid mit dem Boten!“, rief er ihr grinsend zu, nachdem er sich etwas beruhigt hatte. „Der Kleine wird zwei Wochen nicht mehr richtig schlafen können! Was mich angeht, uns hat die Nachricht fast nicht erreicht. Es grenzt an ein Wunder, dass der Bote uns überhaupt gefunden hat. Shira und ich waren gerade dabei, das Nest von so nem Mordsvieh von Riesenadler zu suchen, als wir quasi mit dem Boten und seiner Harpyie zusammengestoßen sind. Die zwei kamen völlig ohne Vorwarnung hinter so ner beschissenen Klippe hervor und Shira hat sich so sehr erschreckt, dass sie noch zwei Tage später wütend auf alles war, was Federn hatte! Konnte sie gerade noch davon abhalten, der nicht minder verstörten Harpyie noch an Ort und Stelle den Kopf abzureißen! Na ja, und da Shira nach diesem Vorfall so wild auf die Jagd nach irgendeinem Federvieh war, haben wir unsere Verfolgung des Riesenadlers halt fortgeführt. Das Tier tut mir immer noch leid, du willst gar nicht wissen was Shira mit ihm angestellt hat, als wir ihn zwei Stunden später gefunden haben.“ Schaudernd fielen Gin die Bilder von dem Kampf ein, den er aus erster Hand hatte miterleben müssen. Es verdiente die Bezeichnung eines Kampfes eigentlich gar nicht mehr, das Ganze war eher eine Schlachtung gewesen als ein ausgeglichenes Aufeinandertreffen zweier starker Tiere.
„Natürlich blieb von dem Adler nicht viel übrig, was man noch hätte verwerten können, also konnten wir uns danach zumindest direkt auf den Weg hierher machen. Verflucht, du glaubst gar nicht wie lange ich gestern abend daran gesessen hab, Shiras Krallen und Zähne einigermaßen von Federn und Blut zu befreien. Ihr war das zwar herzlich egal, doch einen gewissen gepflegten Eindruck sollte man auf so einer Veranstaltung schon machen, wenn du mich fragst.“
Gins Blick schweifte über die Tanzfläche vor ihm und ein hinterhältiges Lächeln stahl sich auf seine Lippen, als ihm ein Gedanke kam. Mit einer übertrieben höflichen Geste verneigte er sich vor Sayeth und hielt ihr die Hand hin. „Verzeiht meine Dreistigkeit, holde Dame, aber darf ich um diesen Tanz bitten?“

Ganz auf das Essen fokussiert registrierte Myrn zunächst garnicht, dass er angesprochen worden war. Aber Alyn ließ sich nicht so einfach ablenken und stupste ihren Seelenpartner an, was ihm eine wahrscheinlich peinliche Situation ersparte. Oder auch nicht, wie sich nach Herumdrehen zu dem Sprecher herausstellte. Nawris Mantel war ordentlich eingesaut und nach einem Blick auf seinen Kyusta, Mila, der knurrend und fauchend vor Alys stand, war der Grund dafür klar. Alys begann unterdessen sich zu putzen, wie um dem Honigdachs aufzuzeigen, dass er dreckig war.
"Hi, Nawri", grüßte Myrn leicht verspätet zurück. Hätte eigentlich klar sein sollen, dass Nawri hier beim Essen zu finden war. Wenn man Nawri finden wollte, musste man entweder dem Schnarchen oder dem Geruch von Essen folgen. Aber der junge Mann war auf Myrns kleinen Expeditionen ein stetiger und treuer Begleiter gewesen. Inzwischen würde er ihn sogar als guten Freund bezeichnen.
"Ich wollte mir auch grade was zu Essen suchen. Hast du irgendwelche Empfehlungen?" Essentechnisch konnte man Nawris Geschmack bedingungslos vertrauen.

Gespannt lauschte sei seiner Erzählung. Ja, Shira und die Vögel, das war doch schon immer ein Thema gewesen. Lachend schlug sie sich die Hand vor den Mund und versuchte sich das Szenario vorzustellen. "Ach ihr beide sind herrlich", giggelte sie und boxte ihm in die Seite.
Sie schluckte den Brotrest runter und wischte sich mit dem ganzen rechten Arm über den Mund, als Gin sie tatsächlich zu seinem Tanz aufforderte. Tanzen?! Sie? Also eigentlich wäre es ja schon schön, aber oh Güte, das würde peinlich werden.
Sie starrte ihn einen Moment lang an, als würde sie gleich losprusten, lachte dann aber nur leicht auf und nahm seine Hand. "Aber mit Vergnügen, werter Herr."

Niyah wurde durch die Umarmung ihrer Freundin förmlich erdrückt und wäre sie diese Begrüßung nicht bereits gewohnt, so hätte sie mit Sicherheit keine Ahnung gehabt, wie sie auf diese überschwängliche Begrüßung hätte reagieren sollen. So aber ließ sie das Geknuddel über sich ergehen, während sie versuchte sich alle von Miras Fragen genau einzuprägen, sodass sie diese nach und nach beantworten konnte.
Schließlich ließ Mira Niyah los, woraufhin diese erst einmal tief durchatmete. Dann strich sie sich ihre grünen, widerspenstigen Locken aus dem Gesicht und grinste ihre Freundin an, es war schön sie einmal wieder zu sehen, denn sie hätte doch in den letzten Monaten das eine ums andere Mal den Rat und die Gesellschaft ihrer Freundin gebrauchen können.
„Ich bin leider erst heute angekommen, ich war bis heut Nacht noch bei meinen Eltern zu Besuch, meinem Vater geht es nicht besonders gut und außerdem konnte ich es ihnen nicht antun, den lang geplanten Besuch zu verkürzen oder weiter aufzuschieben!“, rief sie Mira zu.
Einen Moment lang hielt Niyah inne und versuchte sich an die anderen Fragen zu erinnern. In diesem Moment stieß ihr jemand im Gedränge den Ellenbogen in die Seite, woraufhin Niyah das Bier aus dem Krug schwappte. Gedanklich vor sich hin fluchend wischte Niyah sich das Bier vom Bauch putzte sich die Hände am Rock ab, wahrscheinlich hätte sie daran denken sollen, andere Kleidung anzuziehen. Die Flüssigkeit klebte ihr unangenehm auf der Haut.
„Eine Unterkunft habe ich tatsächlich noch nicht“, gestand Niyah, „Ich hab einfach gehofft dich hier irgendwo zu treffen. Wie gut, dass das auch wirklich passiert ist, wo hätt ich heute Nacht denn sonst bleiben sollen?“
Niyah lächelte ihre Freundin glücklich an. Sie hatte tatsächlich vollkommen vergessen, dass sie einen Schlafplatz brauchte, das war ihr allerdings erst auf der Reise hierher aufgefallen und umzukehren war für sie keine Option gewesen. Diese Feier konnte sie ja nicht verpassen, hier waren soziemlich alle Leute und sie sollte ausgerechnet diejenige sein, die nicht da war und nicht mitreden konnte? Okay, mitreden würde sie wahrscheinlich auch so nicht, aber sie hätte ja nicht einmal eine Ahnung, wovon alle anderen reden würden. Nein, da lieber in den sauren Apfel beißen und sich vollkommen planlos in Getümmel werfen.
„Aber sag mal, was hast du denn die vergangenen Monate so getrieben?“, erkundigte sich Niyah bei ihrer Freundin. Die lebenslustige Mira hatte wahrscheinlich viel mehr zu erzählen, als sie.

Mit einem breiten Grinsen führte Gin Sayeth auf die Tanzfläche. Er konnte zwar selber absolut nicht tanzen, aber was machte das schon? Heute hatte man sich gefälligst zu amüsieren und Gin würde sich von einer Kleinigkeit wie zwei linken Füßen nicht abhalten lassen!
Vorsichtig bahnte er sich einen Weg durch die tanzende Menge und führte Sayeth an einen einigermaßen freien Platz. Unterwegs beobachtete er die anderen Paare und prägte sich ihre Bewegungen ein. Dann, als sie einen Ort erreicht hatten, wo sie so schnell niemanden verletzen würden, drehte er sich abrupt zu Sayeth um, legte seine freie Hand auf ihre Hüfte und begann, sich gemäß des Tanzes der anderen Personen zu bewegen. Dabei musste er so heftig lachen, dass er fast über seine eigenen Füße gestolpert wäre und für einen ziemlichen Unfall gesorgt hätte.

"Hmm... Ich glaube, Mila mochte das gebratene Schwein", antwortete Nawri mit langsamer Stimme und deutete auf das Fleisch auf dem Tisch. "Ich habe... hmm... naja, überall ein wenig. Irgendwo gab es Kartoffeln mit einem Gewürz, das ich gar nicht kannte und einen Martillfisch habe ich auch gesehen. Ich glaube, es war gleich da drüben", der Ankinu deutete in die entsprechende Richtung. "Falls du etwas davon erwischst, kannst du mir auch was mitbringen? ich glaube, ich muss Mila putzen."
Um seinen Worten ein wenig Wirkung zu verleihen, griff er nach einem Krug Wasser, der auf dem Tisch herumstand und stellte ihn neben sich. Dann blickte er seinen Kyusta auffordernd an, was dieser aber nur mit einem Knurren quittierte. Aber da Alys immer noch keine Reaktion zeigte, hüpfte er auf den Bank und dann auf den Tisch und kletterte mit Nawris Hilfe in den Krug. Die Vorderpfoten auf den Rand gestützt blickte er nun seinen Seelenpartner an, wie um ihm zu sagen, dass er jetzt an der Reihe war. Nawri machte aber keinen Wank und starrte nur zurück, was das Ganze ein ziemlich seltsam erscheinen liess. Schliesslich durchbrach Nawri die Starre und griff sich ein Messer, um sich ein Stück von dem Schwein abzuschneiden. Dies wiederum liess Mila aber nicht auf sich sitzen, gab ein Fauchen von sich und versuchte, mit einem Satz auf Nawris Essen zu gelangen. Leider hatte er dabei nicht bedacht, dass er nicht einem Krug sass, so dass das Gefäss nun mit einem lauten Knall am Boden zerschlug und alle Umstehenden nass spritzte. Der Honigdachs machte sich indes nichts daraus und hüpfte ein weiteres Mal auf den Tisch und dann auf Nawris Schulter, wobei er den Mantel mit seinem nassen Fell vollständig ruinierte. Nawri zuckte nur mit der freien Schulter und teilte sein Essen mit Mila.

Sie grinste bis über beide Ohren und weil er nur lachte, übernahm halt dann sie die Führung. Fest packte sie ihn und tanzte irgendeinen Tanz. Dabei schaute sie die ganze Zeit zu ihm auf und grinste. Eigentlich fand sie es sogar recht schön, mit ihm so schön locker und amüsiert zu tanzen.
Mehr als einmal trat sie ihm auf die Füsse. "Tschuldigung", ächzte sie jedes Mal hastig und irgendwann überkam es sie und sie musste lachen. "Sag mal, hast du schon von diesem Gerücht gehört?", versuchte sie sich dann endlich mal abzulenken. "Irgendwo in den südlichen Inselgefilden soll ein Seeungeheuer hausen. Grösser als jedes andere, das man bisher gefunden hat. Deswegen zieht es mich wohl demnächst nach Süden. Ich will das Vieh finden und zur Strecke bringen."
Und wenn es nur ein Mythos war, war das auch ncht so tragisch. "Und was hast du vor?"


Mit einem Humpen Honigwein in der Rechten, suchte sich Evarim eine neue Tanzpartnerin. Oder vielleicht auch jemanden, mit dem es sich einfach reden liess. Irgendwann fand er sich allerdings eingekeilt zwischen drei riesigen Nordmannen. Geduldig wartete er, bis sie zur Seite gerückt waren, und ihn rausliessen.
Er ging weiter und auf einmal entdeckte er zwei Gesichter, die ihm bekannt vorkamen. Zumindest eines davon. War das nicht das Vogelmädchen aus seiner Heimat? Na, konnte ja nicht schaden, da mal hinzugehen.
Er drängelte sich weiter und weiter und kurz bevor er sie erreicht hatte, stockte er. Diese andere Frau ... ohje. Das war doch nicht etwa DIE?

„Ein Seeungeheuer? Einer solchen Jagd wäre auch ich nicht gerade abgeneigt, ich weiß gar nicht wie lange es her ist, dass ich das letzte Mal irgendwas im Meer erlegt hab.“, antwortete Gin lachend, während er das Pochen in seinen Füßen geflissentlich ignorierte. Ungestüm wirbelte er Sayeth im Kreis und bekam das Grinsen gar nicht mehr vom Gesicht.
„Aber mal im Ernst.“, begann er nachdenklich, sobald ihr Tanz wieder etwas ruhiger wurde. „Ich hab noch keine Ahnung, wohin ich mich als nächstes wenden soll. Shira hat auf dem Weg hierher zwar einige besonders beeindruckende Exemplare von Klippenläufern entdeckt, du weißt schon, diese gewaltigen Bergziegen, aber wirklich herausfordernd ist die Jagd auf diese Tiere ja nicht. Ich werde mich wohl heute Nacht in irgendein Schankhaus setzen und mir dort ein paar Geschichten anhören. Das hat bisher noch immer eine gute Jagd abgeworfen. Oder zumindest ein nettes Abenteuer, wenn die Fantasie der Bauern doch etwas zu sehr mit ihnen durchgegangen ist.“ Schmunzelnd erinnerte er sich an die eine Sache mit dem angeblichen zweiköpfigen Bären, der so groß wie ein Haus gewesen sein sollte, und der im Nachhinein nicht mehr als ein gewaltiger, mit Moos bedeckter Stein war. Ja, manchmal konnte eine vermeintliche Jagd wirklich erheiternd sein.
„Aber darüber machen wir uns später Gedanken.“, sagte Gin und begann wieder zu grinsen. „Der Tag ist noch lang und wir haben noch gar nichts zusammen getrunken. Was meinst du, sollen wir uns mal eins von diesen verlockend aussehenden Fässern besorgen?“

Iona war erst seit etwa zwei Tagen in der Stadt, hatte also den Anfang des Festes verpasst, doch das war ihr nicht so wichtig. Hauptsache sie hatte es überhaupt noch erreicht, aber sie konnte dem Boten ja auch nicht wirklich einen Vorwurf machen, hatte sie sich doch in der hintersten Ecke der Insel aufgehalten und ihr begonnenes Abenteuer hatte sie nicht abbrechen wollen.
Doch nun war sie ebenfalls mit Feiern beschäftigt, wie alle anderen auch. Iona hatte sich ihrer dichten Leder/Drachenschuppenkleidung entledigt und sich leichtere und vor allem bequemere Sachen besorgt, schliesslich war sie hier nicht auf der Jagd oder etwas in der Art.
Auch mied sie das Zentrum des Festes und hielt sich eher am Rand auf, zum einen waren ihr dort schlicht und einfach zu viele Leute, zum anderen lag es an Venox. Ihr Partner schien nicht das Bedürfnis zu haben, wie die meisten anderen Drachen die hierher gekommen waren, sich in die Wildnis zu begeben und zu jagen. Stattdessen blieb er in Ionas nähe und lies es sich gut gehen mit den vielen gebratenen Köstlichkeiten, die es hier auf dem Fest gab. Iona erntete zwar ab und an Komische blicke, doch das war sie sich gewohnt und störte Sie Mittlerweilen auch nicht mehr wirklich.

In den vergangenen Monaten? Also seit sie sich das letzte mal gesehen hatten? Nun, das war eine ganze Menge. Mehr, als sie einfach mal so fix hier inmitten des Volksfests hätte erzählen können. Mira ließ sich wieder auf die Bank hinab, unter der noch immer ihre Stiefel lagen, und bedeutete Niyah mit einer Geste, ihr gegenüber Platz zu nehmen.
"Als letztes war ich ziemlich lange im Norden...", begann sie schließlich, "Ich bin die Südwand des Einsamen Kaisers hinauf gestiegen. Hat mich zwei Tage gekostet, aber der Ausblick vom Gipfel war jede Sekunde davon wert!" Der Einsame Kaiser war nicht unbedingt ein besonders hoher Berg, doch er war der letzte Ausläufer der nördlichen Gebirgszüge, dort, wo das Vorgebirge bereits ins westliche Hügelland über ging und es gab weit und breit keine anderen Berge, die die Sicht versperrt hätten. Der Horizont war von dort oben unendlich weit entfernt. "Habe dort oben einen Drachenreiter getroffen. Er ist nicht hoch gestiegen, sondern geflogen, aber er hat mir von einem Berg im Süden erzählt, einem Vulkan namens Kara... nein, Krara... ach nein, das war es auch nicht. Fällt mir aber wieder ein. Und zuvor war ich in den Kristallkammern von...oh mein Gott, dreh dich jetzt bitte nicht um!" Mit einem mal stieg Mira die Röte ins Gesicht und sie versank beinahe unter dem Tisch als sie ganz unbewusst versuchte, sich klein zu machen. "Da ist Evarim...", erklärte sie Niyah im Flüsterton. Die Freundin kannte die Geschichte. Es war das erste mal sein Beginn des Fests vor sechs Tagen, dass Mira sich überhaupt nicht mehr wohl fühlte.

"Naja, es hindert dich ja niemand daran, mich zu begleiten. Ich werde auf alle Fälle dieses Seemonster jagen. Vielleicht geh ich heute Abend noch in die grosse Schenke zum roten Stein und rufe da aus. Mal sehen ob mir jemand folgen wird."
Sie lächelte ihn keck an, während sie sich im Takt der Musik bewegte. Mit Gin zusammen auf Jagd gehen. Das hätte sicher was. Wäre das erste Mal seit längerer Zeit, dass sie zusammen etwas unternehmen würden. Ja, warum eigentlich nicht?
"Na klar ... Wir sollten diesen Tanz mit reichlich Met begiessen", lachte sie.


Leider erinnerte er sich kaum noch daran, was in der Nacht wirklich geschehen war. Er wusste nur, dass er definitiv mit ihr Sex gehabt hatte. Wirklich schade, dass er sich nicht mehr erinnerte. Aber es war schön gewesen, neben ihr aufzuwachen. Auch wenn sie danach sofort die Flucht ergriffen hatte.
Ihre Reaktion, die er beobachten konnte, zauberte ihm ein leichtes Lächeln aufs Gesicht. Es war ihr nach wie vor unangenehm. Oder irrte er sich und sie hatte ihn noch gar nicht gesehen?
Wenn ja, musste er das ändern.
Er kam endgültig zu ihnen.
"Guten Tag die Damen", lächelte er sie an.

Kopfschüttelnd betrachtete Niyah ihre Freundin, deren Wangen sich schlagartig pink färbten und noch bevor diese überhaupt sagte, warum sie auf einmal so peinlich berührt war, wusste Niyah bereits um wen es ging. Wie sollte es auch anders sein, es gab nur extrem wenige Leute die Mira dazu brachten so schnell rot anzulaufen.
"Da ist Evarim...", flüsterte Mira leise und bestätigte so nur die Vermutung von Niyah. Sie selbst konnte nicht verstehen, warum Mira noch immer so einen Aufstand machte und ihr die ganze Sache so verflucht peinlich war, das Ereignis lag jetzt immerhin schon einige Zeit zurück, doch sie hatte ja kein Problem damit, dass Mira sich dafür entschieden hatte, Evarim zu meiden.
Nein, im Gegenteil, innerlich war ein Teil von ihr froh darüber, ansonsten hätte sie nämlich auch mehr mit ihm zu tun haben müssen, doch das wollte sie nicht. Niyah mochte Evarims Auftreten nicht und außerdem fühlte sie sich in seiner Gegenwart immer wie ein kleines Kind. Dennoch dachte sie, dass es nicht ewig so weiter gehen konnte, man konnte einem Menschen doch nicht ein Leben lang aus dem Weg gehen.
„Komm schon, Mira, langsam ist doch auch einmal Gras über die Sache gewachsen, oder? Das Ganze ist jetzt wie lange her…ein Jahr? Länger?“, erkundigte sie sich mit einem Lächeln auf den Lippen, als sie beobachtete, wie ihre Freundin sich immer tiefer duckte, wahrscheinlich um den Blicken Evarims zu entgehen.
Plötzlich beobachtete Niyah, wie Miras Gesichtsfarbe sich von knallrot zu aschfahl veränderte und im nächsten Moment wusste sie auch wieso.
„Guten Tag die Damen!“, ertönte Evarims Stimme direkt neben ihr. Wieso nur, wieso?, fragte sich Niyah und trank erst noch einmal einen kräftigen Schluck Bier um etwas Zeit zu gewinnen, sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Zurückgrüßen..und dann? Sollte sie ihm anbieten, sich dazu zu setzen? Aber was würde Mira dazu sagen und wollte sie das überhaupt?
„Hallo“, nuschelte Niyah schließlich leise und starrte beinahe hilfesuchend zu ihrer Freundin, in der Hoffnung, dass diese eine gute Idee hatte, was nun zu tun sei.

Warum? Warum nur musste ausgerechnet er sie in diesem Gedränge gefunden haben? Warum musste er herüber kommen? Und warum konnte Niyah nicht wenigstens einmal die Souveräne von ihnen sein? Sollte sie sie da jetzt etwa raus quatschen? Sie konnte Evarim ja nicht mal ansehen ohne in Gedanken wieder in seinem Zimmer in der Akademie des Westens zu enden, ihn nackt vor sich zu sehen, seine Hände auf ihrem Rücken zu spüren, seinen Atem auf ihrer Haut. An herzlich wenig von diesem Abend konnte sie sich erinnern – dafür hatte der Drachenbeerenwein gesorgt – aber das, was in seinem Zimmer geschehen war, war ihr in allen Details im Gedächtnis geblieben und trat jedes mal, wenn sie ihn auch nur anblickte, wieder hervor, wie eine Wunde, die bei der kleinsten Berührung wieder aufbricht.
"Hey Evarim", grüßte sie und griff hastig mit beiden Händen nach ihrem Kelch um einen hastigen Schluck zu nehmen und vor allem um ihr Gesicht zu verbergen. Natürlich – wie hätte es anders sein können? – verschluckte sie sich dabei, musste heftig husten. Der Wein schoss ihr aus dem Mund, lief ihr das ganze Kinn herab. Damit war die Katastrophe dann wohl perfekt! Wenigstens gab ihr der Hustenanfall einen willkommenen Vorwand, sich abzuwenden...

Seine Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln, das schon beinahe ein Grinsen war. Sollte diese Reaktion ihn beschämen oder ihm eher schmeicheln. Er entschied sich dafür, dass sie ihm schmeicheln wollte. So eine Reaktion war immerhin ein Bekenntnis, dass sie noch öfters an jene Nacht dachte.
Ungefragt setzte er sich auf den engen Platz neben Niyah, sodass er Mira anschauen konnte. Die Schweinerei ignorierte er getrost. Stattdessen griff er nach einem Kanten Brot.
"Bringe ich dich derart aus der Fassung, Mira, oder hast du dich verschluckt?", fragte er dann unschuldig.

Es war nie wirklich Abneigung gewesen, die Evarims Gegenwart für Mira so ungenehm gemacht hatte, nachdem sie miteinander geschlafen hatten. Im Grunde war er ihr ja durchaus sympathisch. Und vielleicht gerade deshalb hatte sie diese Schuldgefühle, diese peinliche Berührtheit entwickelt. In Momenten wie eben diesem fiel Mira jedoch stets wieder ein, warum sich damals trotz der unbestreibaren gegenseitigen Attraktion nie soetwas wie Liebe zwischen ihnen entsponnen hatte. Evarim konnte so ein arrogantes Arschloch sein!
"Was willst du?", hielt Mira mit einer bissigen Gegenfrage dagegen nachdem sie den Husten überwunden, sich wenig damenhaft den Wein mit ihrem Ärmel aus dem Gesicht gewischt und sich den anderen wieder zugewandt hatte, "Wenn es dir nur darum geht dumme Sprüche zu reissen kannst du dir jemand anderen suchen..." Sie versuchte dabei, ihm in die Augen zu sehen. Es gelang ihr nicht.

„Worauf warten wir dann noch?“, sagte Gin grinsend und lenkte ihren Tanz in Richtung des Randes der Tanzfläche. Die Entscheidung, ob er mit seiner Freundin diesem Seeungeheuer nachstellen sollte, würde sich auch später noch fällen lassen. Nach kurzer Zeit hatten sie die versammelte Menge verlassen und traten zurück in die Gruppe der johlenden Zuschauer. Nicht gerade zimperlich bahnte Gin sich einen Weg durch die feiernden Ankinus und führte Sayeth zu den aufgereihten Fässern mit Bier, Met und jeder anderen vorstellbaren Art von trinkbarer Köstlichkeit, die Rhoron und seine Bewohner zu bieten hatten.
Dort angekommen, griff er sich von einer vorbeikommenden Bedienung (einer nicht gerade unansehlichen Vra'Ankinu) zwei hölzerne Krüge, trat an eines der Fässer heran und wollte schon den Zapfhahn umdrehen, als ihm plötzlich etwas einfiel. Fragend drehte er sich zu Sayeth um, schaute sie an und deutete dabei mit einem der beiden Krüge auf die Fässer. „Was davon willst du eigentlich trinken? Den Met, den du gerade erwähnt hast, oder war das nur eine Redensart?“

Während er sie so mit sich mitzog, schaute Sayeth sich genau um, in der Hoffnung, bekannte Gesichter zu sehen. Dies war jedoch nicht der Fall. Schade. Naja, Gin war ja auch toll und für den Moment sogar Unterhaltung genug. Heute Abend würde sie sicher noch die Goldene Feder oder den Roten Adler besuchen. Waren beides sehr schöne Schenken mit viel Platz und aufgestellten Wirtsleuten.
"Met ist super", lächelte sie Gin auf seine Frage hin an. "Aber füll mir damit nicht den ganzen Krug."


Evarim unterzog Mira einer genauen Musterung, ehe er sich seine Worte zurechtlegte. Sie war ja nicht unansehnlich und oftmals wünschte er sich, er würde sich an mehr erinnern. Eigentlich trank er ja nur sehr dosiert Alkohol, war manchmal sogar eine ganze Weile abstinent. Damals war halt alles sehr aus dem Ruder gelaufen und unterm Strich konnte er sich glücklich schätzen, erreichten die Ankinu ihre Fortpflanzungsfähigkeit erst so spät. Gerüchten zu Folge gab es jenseits der Weiten Meere Wesen, die bereits mit vierzehn Jahren Kinder gebären konnten.
"Entschuldige bitte", sagte er schliesslich und heftete seine Augen dabei fest auf ihre. "Ich wollte dich nicht beleidigen. Leider bin ich in Sachen Scherzen nach wie vor nicht sonderlich geschickt ... und verzeih die Unhöflichkeit."
Er wandte den Blick von Mira ab und lächelte Nyiah an. "Selbstverständlich freut es mich auch, dich zu sehen."