GQ - [Die MSG]

Finn fühlte Erleichterung, als Amun losstürmte, um einen Heiler zu holen. Die Avior konnten Geralt bestimmt immer noch retten. Ohne Erfolg versuchte er, die Tränen und die Erinnerungen an den blutspuckenden Geralt zurückzudrängen. Das würden nicht die letzten Erinnerungen sein, die er von dem Waldläufer haben würde. Die Heiler konnten Magie wirken und er würde wieder gesund werden. Doch die Bilder des sich windenden Körper und die letzten Worte, die er hervorgebracht hatte, kamen immer wieder zurück. Zum ersten Mal verfluchte er seine Fähigkeit, alles, was er wahrnahm, genau zu behalten.
Die beiden Avior, die an ihm vorbeirauschten und zu Geralts Zimmer eilten, rissen Finn aus seiner Starre. Schniefend wischte er sich über das Gesicht und machte sich nach einer kurzen Pause daran, Amun und dem Heiler zu folgen. Aldred, Trevin und der Söldner waren bereits versammelt und der Heiler stand nur da. Finn wollte ihn anschreien, etwas zu tun, da bemerkte er das Tuch über Geralts Gesicht und erstarrte. Er wusste natürlich, was das bedeutete. Er hatte es schon oft gesehen, nach den Kämpfen auf den Mauern der letzten Stadt und nach der Schlacht um das Dorf gegen die Schatten. Die Person unter dem Laken war tot. Aber das nicht irgendjemand auf dem Bett, das war Geralt. Der Waldläufer, der
Finn geholfen hatte, als er in einem fremden Wald auf einem fremden Kontinent verloren gewesen war, der ihn vor den Banditen beschützt hatte, obwohl es sein Leben hätte kosten können, der Zweifel gehabt hatte, der mit ihnen so oft gegen die Schwarzen gekämpft hatte. Schon einmal hatten sie geglaubt er wäre, tot, damals in den Gewundenen Untiefen, doch er war wieder aufgetaucht. Aber jetzt lag sein Körper unter dem Laken und regte sich nicht mehr. Er würde nicht mehr zurückkommen. Geralt der Waldläufer und Finns erster Freund war tot.
Finn blieb einfach starr stehen, den Blick auf das Bett gerichtet. Ein Wimmern entglitt ihm und die Tränen, die er eben niedergekämpft hatte, strömten wieder ungehalten über sein Gesicht.

Der Schmerz – ein seelischer diesmal anstatt eines körperlichen – hatte Aldred in Apathie versetzt, hatte ihn wie betäubt zurück gelassen. Die Bürde auf seinen Schultern, die er bereits seit jener Zeit, da die Gruppe ihn mehr und mehr als Anführer betrachtete, als zu schwer empfand, schien erneut angeschwollen zu sein und drohte ihn beinahe zu erdrücken. Warum er? Warum lastete all das auf ihm? Trug er die Verantwortung für Geralts Tod? Geralt... der Zweite, den die Gruppe nun innerhalb weniger Wochen verloren hatte. Aber Nicoles Tod war... verkraftbarer gewesen. Sie hatten lange Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten. Hatten damit rechnen müssen, dass er nun unausweichlich wäre. Und der Hohepriester sowie der Schreinwächter waren ihnen Trost und Stütze gewesen. Geralts Tod dagegen kam überraschend und niemand war hier, der ihr Leid hätte lindern können. Die Avior hatten ihre eigenen Sorgen.
Es war erst Finns Auftauchen, das Aldred aus der Betäubung riss. Der Junge hatte Geralt sehr gemocht. Und er war so zart, all diese Gewalt, all dieses Morden ihm so fremd. Ihn musste es noch härter als Aldred getroffen haben. Wortlos schritt der Schmied zu ihm herüber und schloss Finn in seine Arme. "Du musst jetzt stark sein", murmelte er leise.

Die offensichtliche Trauer der anderen liess Tristan relativ unberührt. Er hatte schon zu oft Kameraden verloren oder war von ihnen verraten worden, als dass dieser Moment für ihn von Bedeutung gewesen war. Er hatte ja auch nicht viel über Geralt gewusst - abgesehen von der Beschaffenheit seines Hinterns.
Trotzdem machte Tristan eine bedrückte Miene, strich sich die Haare zurück, wie er es immer tat, wenn er gestresst war.
Gerne hätte er diesen Vollidioten auch gesagt, dass er Recht gehabt hatte, dass sie ihn nicht hätten weiter leiden lassen sollen. Doch er hatte das Gefühl, dass das zu viel AUfmerksamkeit auf ihn gelenkt hätte, weshalb er es bleiben liess.
Er begnügte sich damit, gegen ein Möbel zu treten und sich dann auf die Pritsche zu setzen, in der Finn genächtigt hatte.

Tristan war nicht der einzige, der keine Trauer verspürte; Trevin berührte Geralts Tod nur insofern, daß sie jetzt einen wichtigen Mitstreiter verloren hatten. Er hatte schon zu viele Menschen sterben sehen, als daß ein weiterer Tod noch wirklich so etwas wie Trauer bei ihm ausgelöst hätte; davon abgesehen hatte er Geralt nicht wirklich gekannt.
"Ich finde es seltsam, daß er jetzt einfach gestorben ist, wo die Heiler doch sagten, er sei auf dem Wege der Besserung," bemerkte er mit kalter Stimme. Er stand mit vor der Brust verschränkten Armen an die Wand neben der Tür gelehnt und sah zur Seite, blicklos. "Irgendwas ist da faul..."

Am nächsten Tag heulte der Sturm immer noch, doch das hielt die kleine Gruppe von Gestalten nicht davon ab, draussen zu sein. Zusammengehuddelt standen sie im relativen Schutz einiger Felsformationen und beobachteten, wie zwei Avior ein graues Bündel in die Höhe flogen, während ein anderer eine komplizierte Melodie pfiff. Finn verstand die Pfiffe nicht und es interessierte ihn auch nicht. Sein Blick war starr auf das Bündel gerichtet. Die Vogelmenschen hatten darauf bestanden, dass sie Geralt nach Avior-Tradition verabschiedeten und dem Sturm zurückgaben. Sie konnten ihn nicht verbrennen, weil Holz in der Neststadt ein viel zu wertvolles Gut war und sie konnten ihn nicht begraben, weil die wenigen Stücke Erde für den Ackerbau gebraucht wurden. Doch auf dem Berg gab es viele Orte, die niemand besuchte und durch die der Sturm immer wieder blies. Der Körper würde irgendwo im Gebirge verschwinden und wahrscheinlich von Wildtieren gefressen werden.
Schliesslich endete der Windsprecher und im selben Moment öffneten die Kreise ziehenden Avior ihre Klauen und überliessen Geralts Körper seinem Schicksal. Er stürzte hinunter, doch eine unerwartete Windböe brachte ihn vom Kurs ab und statt einfach in die Spalte zu fallen, knallte er mit einem dumpfen Geräusch, das sogar durch das Pfeifen des Windes zu hören war, gegen die Kante und verschwand erst dann in der Tiefe. Eigentlich hätte Finn sich an der Misshandlung des Körpers stören müssen, doch er reagierte gar nicht darauf. Er war nur noch müde. Nachdem Geralt gestorben war hatte er nur noch geweint, bis keine Tränen mehr aus seinen Augen kamen. Dann hatte er einfach in die Leere gestarrt. Ihm war es gar nicht eingefallen, einzuschlafen. Stattdessen hatte er die ganze Nacht und den folgenden Morgen starr in der grossen Höhle verbracht, bis die Avior verlangten, dass sie den Körper entfernten. Bereits am Morgen hing ein unangenehmer Geruch in der Luft, deshalb leisteten sie der Aufforderung relativ schnell Folge. Und nun waren sie hier und starrten auf die Felsspalte, in der Geralt verschwunden war. Er war weg. Tot. Er war wirklich tot.
Finn nahm einen tiefen Atemzug, zum ersten Mal seit er aufgehört hatte zu schluchzen, gab er bewusst ein Geräusch von sich. Dann sprach er.
"Amun", sagte der Junge mit leiser Stimme. "Wann... wann können wir von hi... hier weg?"
Finn hoffte, dass es schon bald sein würde. Diese fremde Welt, die Heimat dieser seltsamen Wesen faszinierte ihn nicht mehr. Geralt, sein allererster Freund, war hier gestorben. Er wollte weg.

"Nicht, bevor wir getan haben wofür wir gekommen sind", antwortete Aldred an Stelle des Vogelmanns. In seiner Stimme lag eine ungewohnte Härte. Keine entschlossene Härte. Eher eine Spur von Bitterkeit. Auch er hatte die Nacht über nicht geschlafen, doch im Gegensatz zu Finn war er nicht in der Lage gewesen, seine Trauer in Tränen zu verarbeiten. Stattdessen hatte der Schmerz sich tiefer und tiefer in ihn hinein gefressen und hielt nun sein Herz in kaltem, unbarmherzigem Griff. Allein die Erinnerung an seinen Traum gab ihm die Kraft, nicht daran zu zerbrechen. Nach Nicole nun auch noch Geralt zu verlieren war ein grausamer Schlag.
"Wir sind es Geralt schuldig, nicht unverrichteter Dinge von dannen zu ziehen", erklärte er weiter, "Würden wir nun verschwinden, dann wäre sein Tod umsonst gewesen. Erfüllen wir dagegen die Prophezeihung aus dem Tempel, dann ist es ein guter Tod, den er gefunden hat."

Der Anblick des fallenden Toten erfüllte Tristan mit Erleichterung. Weg war Geralt. Für immer. Er hatte sein Geheimnis mit ins Grab genommen.
Der Söldner seufzte, als er die Worte des Jungen hörte. Ja, er wäre auch gerne von ihr verschwunden. Die Vogelmenschen waren ihm zu unsympathisch. Nichtsdestotrotz hatte der Bärenfellmann Recht.
"Wir werden früh genug von hier verschwinden", versuchte Tristan Finn aufzumuntern. "Geralt hätte bestimmt nicht gewollt, dass wir seinetwegen aufgeben. Du musst jetzt stark sein."

Amun kratzte sich am Schnabel und verlagerte nervös sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Die anderen Avior hatten sich über den Sturm unterhalten und auch die Besatzung des Luftschiffes hatte sich leise unterhalten. Der Sturm hatte immer weiter zugenommen, seit sie hier waren. Inzwischen waren auch die anderen Lanzen neben der Neststadt betroffen.
"Wir...können nicht gehen. Der Sturm ist zu stark. Die Windsprecher beschützen das Tal, aber kein Avior kann noch die Berge verlassen. Diesen Winden wird auch das Luftschiff nicht standhalten. Nur nach vorne können wir gehen. Sprechen wollten uns die Windsprecher. Die Prophezeiung kennen sie, haben sie gesagt."
Was seltsam war. Keiner der anderen Avior kannte die Worte, aber die Windsprecher hatten auf Amuns Bericht reagiert als hätten sie ihn erwartet.

Beklommen beobachtete Neythani das Ritual der Vogelmenschen und sah dann zu der Gruppe. Die meisten von ihnen wollten gern wieder weg, doch einige waren der meinung sie sollten hier bleiben, warum auch immer. Verwirrt blickte sie die Menschen an. Wovon sprachen sie überhaupt. Rat und hilflos wandte sie sich an Aldred.
"Verzeiht.. ich weiss es ist kein guter Moment.. ich würde gerne wissen, warum eure Freunde hier bleiben wollen, wo doch einige davon weg wollen. Und der Vogelmann sagt gerade, das wir nicht mehr weg können, wegen dem Sturm.."

Finn wollte keine Prophezeiung erfüllen. Er wollte sich viel lieber irgendwo in einem Buch vergraben. Fast wünschte er sich er wäre in E'jin geblieben. Vielleicht wären sie dann nicht durch diese Höhle geirrt und die Avior hätten sie früher gefunden und Geralt wäre noch am Leben. Aber nein, er sollte sich keine Vorwürfe machen. Geralts Wunden waren schlimm gewesen und nichts hätte ihn retten können. Und ausserdem hatte Finn nicht in der Magierstadt bleiben können, nicht wenn er selbst nie ein Magier werden würde. Aber wenn er ein Magier gewesen wäre, hätte er Geralt vielleicht retten können. Magier konnten alles tun. Aber er würde nie ein Magier werden.
Wieder musste Finn die Tränen zurückhalten. Er hätte nicht gedacht, dass er noch welche hatte, aber die Trauer um seinen toten Freund und die Enttäuschung über seinen verlorenen Traum brachten sie immer wieder von Neuem hervor. Doch er konnte jetzt nicht weinen. Mit einer fast übermenschlichen Willensanstrengung unterdrückte er den Drang und wandte sich wieder an Amun.
"Da... dann können wir das j... jetzt tun?"

Neythanis Fragen erschienen Aldred im ersten Moment außerordentlich befremdlich und so warf er ihr einen ein wenig verwirrten Blick zu. Dann jedoch fiel ihm wieder ein, dass die Katzenfrau zumindest von der Prophezeihung keine Ahnung hatte. "Dieser Sturm ist nicht natürlichen Ursprungs", erklärte er, "Woher er kommt kann ich nicht sagen, aber Amun'Raak glaubt, es hat etwas mit dem Palast des Sturmkönigs zu tun. Oder mit dem, was dort drin ist. Wir haben eine alte Prophezeihung der Avior gefunden, die von einem Helden spricht, der den Palast betreten und sein Volk von großem Unheil erlösen wird... oder so ähnlich. Schwer zu sagen, was es damit auf sich hat. War in alten Schriftzeichen der Vogelmenschen geschrieben. Nur Amun'Raak hat sie gelesen. Frag besser ihn, wenn du mehr wissen willst. Er ist jedenfalls entschlossen, in diesen Palast zu gehen und den Sturm zu beenden. Und sieht ja auch ganz so aus, als hätten wir keine andere Wahl. Solange der Sturm anhält sitzen wir hier fest."

"Ja... ja, glaube ich schon" antwortete Amun an Finn gewandt. Die Gruppe war ohnehin hier. Da konnten sie auch gleich zusammen zu den Windsprechern gehen. Die Windwächter vor dem Eingang ließen sie ohne Widerworte passieren. In den Höhlen der Windsprecher fiel als erstes auf dass die Wände über und über mit Piktogrammen versehen waren. Ob es sich dabei um dieselbe Prophezeiung wie in der Bibliothek handelte konnte man schlecht sagen. Nicht einmal Amun konnte die Schriftzeichen so richtig entziffern. Hier und dort konnte er ein Schriftzeichen übersetzen, aber die Worte ergaben keinen Sinn.
Amun führte die Gruppe durch die Höhlen. Jeder wusste so ungefähr wie man zur Haupthöhle kam. Schließlich konnte es immer einen Notfall geben.
"Halt", hielt man die Gruppe an. Ein junger Windsprecher, so um die fünfzig, bedeutete der Gruppe ihm zu folgen. Der ältere Avior eilte voran. Und während das Heulen des Windes von draußen inzwischen verstummt war, so nahm es jetzt doch wieder zu. Es dauerte nicht lange bis der Gruppe wieder ein kräftiges Windchen entgegenzog.
Ihnen eröffnete sich eine Höhle, die wie abgeschnitten erschien. Die Windsprecher hockten kreisförmig um ein paar auf Hüfthöhe gehende Säulen, direkt neben einem gewaltigen Loch in der Bergwand. Man konnte durch die Regenschwaden grade eben so noch die Lanze sehen auf der der Palast des Sturmkönigs sich befand.
Der Windsprecher bedeutete ihnen sich zu nähern. Die anderen schenkten der Gruppe keine Beachtung und murmelten nur leise vor sich hin. Wahrscheinlich verhinderten sie, dass der Sturm diese Höhle völlig für sich vereinnahmte.
Amun besah sich die Säulen. Die ihm nächste war leicht in seine Richtung angeschrägt und hatte oben den Abdruck einer vierfingrigen Klauenhand, wie die eines Avior. Die anderen zwei hatten beide einen fünffingrigen Abdruck, wobei einer deutlich kleiner war, wie der Abdruck eines Kindes.
Der Windsprecher, der sie hierhergeführt hatte, hatte sich inzwischen zu den anderen gesetzt und die Augen geschlossen. Amun legte seine Hand auf den Abdruck. Nichts passierte. Der Avior zuckte mit den Schultern und drehte sich zur Gruppe um.
"Alle zusammen vielleicht?"

Trevin maß die Säulen mit mißtrauischem Blick. Sie schienen ihm kein Wunder der Handwerkskunst zu sein, sahen eher recht schlicht aus. Doch das Aussehen mußte nichts bedeuten; gerade die Anhänger der Yragona wußten nur zu gut, daß sich wahrhaft bedeutendes oft geschickt verbarg.
Er warf einen kurzen Blick in die Runde, und da noch niemand Anstalten zu machen schien, der Aufforderung des Vogelmannes nach zu kommen, trat er selbst vor die Säule mit dem größeren Abdruck. Seine Hand bewegte sich darüber und einen kurzen Moment lang hielt er sie in der Schwebe. Dann ließ er sie mit einem Achselzucken nieder sinken. Sie fügte sich bemerkenswert gut in die Umrisse ein. Davon abgesehen fühlte er aber nichts weiter als kalten Fels unter seiner Haut. Was immer diese Säulen bewirken konnten - sie würden es wohl erst tun, wenn noch jemand seine Hand auf die dritte Säule legte.

Ganz gleich was ihm in den letzten Jahren seines Lebens widerfahren war, im Grunde war Aldred immer ein einfacher Mann geblieben. Er war ein Schmied und als solcher verstand er wenig von Zauberei, Prophezeihungen und seltsamen Artefakten, wie eben jenen Säulen, vor denen sie nun standen. Er hatte stets versucht, sich von eben solchen Dingen fern zu halten, brachte ihnen eine gesunde Portion Misstrauen und bis zu einem gewissen Grad auch Furcht entgegen und verspürte insofern nicht das geringste Bedürfnis, sich an diesem – nun, was mochte es sein? Ein Ritual? – zu beteiligen. Er war also nicht undankbar als stattdessen Trevin vortrat und seine Hand in den Abdruck der zweiten Säule legte. Die verbliebene Säule, das war unschwer zu übersehen, war auf eine bedeutend kleinere Person hin ausgelegt. Aus ihrer Gruppe konnte das nur einer sein.
Aldred gab Finn einen leichten, aufmunternden Stoß gegen die Schulter. "Geh nur!", brummte er ihm leise zu und war sich doch gänzlich unsicher, wozu er den Jungen da eigentlich gerade aufforderte.

Nicht einmal die Trauer um Geralt konnte verhindern, das Finns kindliches Erstaunen über fremde Dinge wieder aus ihm herausbrach. Mit halboffenem Mund sah er sich in den weitläufigen Höhlen um, durch die der Windsprecher sie führte. Obwohl er das Innere von Fels inzwischen schon einige Male gesehen hatte, war der Versammlungsort der Windsprecher neu. Schwaches, natürliches Licht erhellte die Wände und eine milde Brise war ständig zu spüren. Finn verglich die Symbole an den Wänden in seinem Kopf mit verschiedenen Schriften, über die er gelesen hatte, doch sie ähnelten keiner. Die Schrift der Avior hatte sich scheinbar ohne Einfluss der Aussenwelt entwickelt. Das führte dazu, dass Finn sich fragte, wie lange die Vogelmenschen wohl schon in den Wolkenbergen lebten.
Bevor seine Gedanken weiter abschweifen konnten, näherten sie sich der Versammlung der Windsprecher. Die Brise verwandelte sich auf dem Weg in einem spürbaren Gegenwind, obwohl die Magie der Avior dafür sorgten, dass er nicht Überhand nahm. Aber wieso die Windsprecher ihre Versammlung trotzdem hier abhielten, fand Finn ein Rätsel. Wäre es nicht viel einfacher, sich an einer geschützteren Stelle, statt mitten in dem Loch zu versammeln? Es schien, als würde die Magie ihre ganze Aufmerksamkeit beanspruchen. Die Runen zogen sich auch hier über die Wände und über diese Säulen. Aber wie sollten sie sich nun mit den Windsprechern unterhalten? Die Avior machten keine Anstalt, sich zu bewegen. Auf was warteten sie?
Erst Aldreds Berührung machte Finn auf die Abdrücke auf den Säulen aufmerksam. Mit einem hastigen Blick bemerkte er, dass alle auf ihn zu warten schienen. Amun und Trevin pressten ihre Hand gegen eine Säule und der letzte freie Abdruck war klein. Zu klein für die Erwachsenen. Finn runzelte die Stirn, doch er trat zögerlich nach vorne und hob einen Arm um sein Gesicht vor dem Regen und dem Wind, dass durch die Löcher in der Wand kam, zu schützen. Die andere legte er vorsichtig auf den Abdruck.

Auch Amun legte seine Krallenhand wieder auf eine der Säulen. Eine Weile lang passierte nichts. Grade als Amun seine Hand wieder von der Säule nehmen wollte, leuchtete der eingravierte Abdruck auf. In dem Kreis, der die Mitte der Säulen bildete, klickte etwas. In dem Stein zeigten sich Risse. Erst auf den zweiten Blick fiel Amun auf, dass die Öffnungen viel zu grade waren als dass sie Risse sein konnten. Der Stein schnappte sternförmig auseinander. Eine Kralle hakte sich am Rand des Loches fest. Sie war golden. Ein Wesen zog sich aus der Öffnung. Es war spinnenähnlich. Allerdings verfügte es über nur vier Beine und bestand aus purem Gold. Blitze zuckten seinen Körper entlang und waren auch in dem Mund sichtbar. Der Hinterleib schien aus Glas zu bestehen, in dessen Rundung eine Kugel aus Blitzen steckte.
Das Konstrukt, denn ein Lebewesen konnte es nicht sein, drehte sich einmal im Kreis und verbeugte sich vor jenen dreien, die ihre Hände auf die Säulen gelegt haben. Seine metallenen Stachelbeine klickten über den Boden als es in Richtung des Abgrunds schritt. Amun zog seine Hand zurück, hielt aber den Mund, unwillig das Konstrukt zu unterbrechen.
Ein einzelner Blitz verließ den Hinterleib der Spinne und zuckte zum Palast des Sturmkönigs. Kurz darauf zuckte ein weitere Blitz zurück. Erst dann folgte der Donner. Das Spinnenkonstrukt krabbelte unterdessen zurück und verschwand in seinem Loch, wobei sich der Stein wieder über ihm schloss.
Vom Palast des Sturmkönigs ertönte ein Krachen. Durch die Öffnung in der Wand konnte man sehen, wie sich eine Brücke vom Palast her zu ihnen schob. Mit einem weiteren Krachen dockte die Brücke an ihrer Kammer an.
Die Windsprecher hatten sich unterdessen nicht einmal bewegt. Ihr leiser Gesang wurde allerdings lauter und ein Windstoß fegte die Brücke entlang, schob den Sturm beiseite. Der schwarze Sturm schob sich nur widerwillig beiseite, aber er öffnete trotzdem einen Korridor auf der Brücke, durch den man bequem gehen konnte.

Mit einer Mischung aus Grauen und Faszination, die wohl jeden, der nicht an derartige Magie gewöhnt war, bei diesem Anblick erfassen musste, hatte Aldred das Wirken des fremdartigen goldenen Konstrukts beobachtet. Seine Hand war unwillkürlich an den Hammer gefahren, der wie üblich lose in seinem Gürtel steckte und er hatte sehr bereut, keinen Schild zur Hand zu haben. Obgleich das ganze unzweifelhaft zu ihrer aller Vorteil geschah gefiel es ihm nicht. Oh, ganz und gar nicht! Es war widernatürlich. Es war unverständlich. Und Aldred fürchtete sich vor dem, was nun vor ihnen lag. Dennoch trat er ein paar vorsichtige Schritte auf die Brücke zu, einen schmalen, endlos scheinenden Steg aus Stein. Unerklärlicherweise schien sie aus einem einzigen Stück zu bestehen, keine Fugen oder Risse verrieten, wo geschickte Steinmetze Platte an Platte gefügt haben mochten.
"Wir... müssen jetzt dort rüber, ja?", fragte er zögerlich in die Runde. Oh nein, das ganze gefiel ihm überhaupt nicht. Aber doch: in seinem Innersten wusste Aldred, dass sie keine Wahl hatten, als weiter auf dem Pfad voran zu schreiten, den sie nun eingeschlagen hatten. Das, oder sterben.

Amun war nicht weniger überrascht als Aldred und brachte zunächst nur ein unglücklich klingendes Krächzen hervor. Was war das für ein Ding gewesen? Es hatte sich verbeugt als würde es ihnen dienen wollen. Aber es gab niemanden im Volk der Avior der so etwas schaffen konnte. Jeder Avior verfügte über ein angeborenes Potenzial für ein wenig Magie, aber mehr war es niemals. Die mächtigsten unter ihnen wurden Windsprecher. Bei allen anderen äußerte sich die Magie vielleicht mal in einem Blitz oder einer kurzen Beschleunigung der Bewegungen, aber es war niemals mehr als das. Es gab keine Magier unter den Avior und es gab niemanden, der Totes beleben konnte.
"Müssen wir wohl, ja. Alles sehr...hm verwunderlich?"
Einen testenden Schritt später stand Amun auf der Brücke und streckte probeweise die Hand nach oben. Kein Wind riss ihn von den Beinen. Der Windtunnel schien groß genug zu sein. Schritt für Schritt tastete sich Amun vor.
"Ist wohl sicher, heh. Gibt eh keinen anderen Weg."
Schritt für Schritt schob sich Amun über die Brücke. Auf der anderen Seite gab es eine kleine Höhle, die genug Platz für die Gruppe bieten würde.

Tristan liess es sich nicht ansehen, doch ihm war ganz und gar nicht wohl bei der Sache. Am liebsten hätte er den Kerlen gesagt, dass er hier warten würde. Doch in Anbetracht der Tatsache, dass er es hier mit wahnwitzigen Irren zu tun hatte, die bestimmt alle da rüber gehen würden, wollte er nicht als einziger Feigling dastehen.
Er war schon immer ein eher bodenständiger Mensch gewesen. Mit Magie hatte er nie viel am Hut gehabt und er mied den Kontakt damit so gut es ging. Weil Magie einfach unfassbar war. Man konnte nicht mit dem Schwert draufschlagen also war sie doof.
Trotzdem fasste er sich ein Herz und beschritt den schmalen Grat. Er behielt dabei sein Schwert, das an seiner Seite hing umklammert.

Neythani starrte ungläubig auf dieses Schauspiel und hätte sich am liebsten irgendwo verkrochen. Ängstlich klammerte sie sich an ihren Speer und fühlte sich einfach nur unwohl. Als dann die Brücke erschien und der Sturm förmlich zur seite geschoben wurde, war sie ein wenig verwirrt. Sie sollten da rüber gehen? Das war doch selbstmord. Neythani schüttelte den Kopf.. "Ich geh da nicht rüber," sagte sie dann und sah einfach nur ängstlich drein.

Mit Melancholie im Blick wandte Aldred, der bereits hinter Amun'Raak einen Fuß auf die Brücke gesetzt hatte, sich zu der Katzenfrau um. "Niemand muss mit uns kommen, wenn er das nicht will", erklärte er ruhig, aber doch nicht wirklich sachlich. Etwas Betrübtes lag in seiner Stimme. "Aber wir alle, wir können nicht zurück bleiben. Der Sturm wird stärker. Er ist es bereits geworden, seit unserer Ankunft. Wenn wir weiter warten, dann wird er diese Berge ganz und gar verschlingen und das Volk der Avior wird aus der Geschichte verschwinden. Wenn es Rettung gibt, dann liegt sie dort drüben." Er wies die Brücke entlang. "Amun'Raak muss hinüber gehen und ich kann ihn nicht im Stich lassen. Aber du, du bist uns zu nichts verpflichtet. Allein dein Gewissen kann dir raten, uns zu folgen oder zurück zu bleiben und zu beten, dass wir nicht scheitern..."
Ohne Neythanis Reaktion abzuwarten, ohne einen weiteren Versuch, sie zu überzeugen, wandte er sich abermals dem Palast des Sturmkönigs zu und betrat die Brücke. Kein Geländer, keine Ballustrade schirmte sie zu den Seiten ab, an denen es endlos in die Tiefe hinab ging. Dennoch schloss Aldred die Augen. Als er Schritt für Schritt hinüber ging war es nicht mehr der schwarze Sturm der Wolkenberge, der um ihn herum toste. Es war der Wind des stürmischen Tals seiner Träume.

Finn hatte nicht gewusst, dass in seinem Körper genug Kraft steckte, um einen Sprung rückwärts zu machen, geschweige denn einen Sprung von über einem Meter, doch das Auftauchen des goldenen Spinnenkonstrukt bewies das Gegenteil. Es war ein Glück, dass die Heiler der Avior sich um seinen Knöchel gekümmert hatten, ansonsten wäre er wohl vor Schmerzen auf der Stelle zusammengebrochen. So beschränkten sich diese auf ein dumpfes Aufblitzen in seinen Füssen, als er wieder Kontakt mit dem Stein machte, das ihn aber genug ablenkte, so dass er die schwarzen Flecken, die für einen Moment um ihn herum auftauchten, nicht bemerkte.
Da das goldene Ding sie aber nicht angriff, beobachtete Finn mit Angst in den Augen, wie es seine Arbeit tat und wieder unter der Erde verschwand. Nur kurz beschäftigte er sich mit dem Wunder dieses Zaubers und damit verbunden, mit den Erinnerungen an seine Abweisung. Schon fast gekonnt schob er diese zur Seite und trat hinter Amun und Tristan auf die Treppe und stoppte kurz, um Aldreds Worte zu der Katzenfrau zu lauschen. Eigentlich trafen diese auch auf ihn zu. Er hatte keinen Grund, der Gruppe zu folgen. Doch er wollte auch nicht hier an dem Ort bleiben, wo Geralt gestorben war, bei diesem absolut fremden Volk. Er hatte sich an die meisten Mitglieder der Gruppe gewöhnt und wollte nicht alleine zurückbleiben. Ein trauriges Lächeln tauchte kurz auf seinem Gesicht auf, als er weiter die Treppe durch den Sturm hochstieg. Schon wieder floh er vor Erinnerungen, die er nie loswerden würde und begleitete die Anderen in ein ungewisses Schicksal.

Neythani sah den anderen hinterher, als diese die Brücke überquerten. Dann sah sie die Avior an. Was, wenn sie ohne die Gruppe nicht von hier weg kam?.. Dieser Ort machte ihr mehr angst, als diese unheimliche Brücke. So schnell sie ihre Füße trugen, rannte sie hinter den anderen her, ohne darauf zu achten, das die brücke ja kein geländer hatte. "Wartet auf mich," rief sie. Als sie die Gruppe erreicht hatte, wurde sie langsamer und schluckte ihre angst hinunter.

Die Höhle auf der anderen Seite der Brücke war klein und dunkel und die Decke niedrig. Obgleich kaum mehr als durchschnittlich groß musste Aldred den Kopf ein wenig einziehen um ihn sich nicht zu stoßen. Das Rauschen des Windes erklang nur noch gedämpft. Unnatürlich gedämpft. Es hätte stärker sein müssen und Aldred war sich nicht sicher, ob es der Zauber der Windsprecher, der die Brücke vom Sturm behütete, oder doch dieser Ort selbst war, der den Sturm fern hielt.
Nach und nach tröpfelte der Rest der Gruppe ein, nachdem jeder die Brücke in seinem eigenen Tempo überquert hatte. Zurück zu bleiben schien niemand zu wollen. Paradoxerweise steigerte dies in Aldred eher das Gefühl des Unwohlseins, anstatt ihn zu beruhigen. Es hatte etwas endgültiges, dass sie nun alle hier herüben waren. Es gab kein Zurück mehr. Nur noch den Weg nach vorne, ins Ungewisse. Er nahm seinen Hammer aus dem Gürtel und umfasste ihn fest mit der Rechten. "Schätze, den werde ich brauchen", wandte er sich an Amun'Raak und schob unmittelbar die drängende Frage hinterher: "Was weißt du über diesen Ort? Diesen Palast?"

Beim Anblick des Konstrukts war Trevin zusammengezuckt, und seine freie Hand war automatisch dem Griff seines Schwertes zugestrebt. Doch er hatte die Waffe nicht gezogen, denn das... Ding... war ihnen wohl nicht feindlich gesonnen.
Eine Brücke war ihnen erschienen, geradewegs durch die Sturmhölle führend, und er hatte sich an den Flug im Luftschiff der Avior erinnert gefühlt; den Flug durch den Sturm hindurch. Doch diesmal war es doch noch irgendwie anders gewesen. Bedrohlicher. Warum, hatte er mit Gedanken nicht beschreiben können.
Trevin hatte die Brücke nur zögerlich betreten, und auch erst, als Amun ihnen voraus geschritten war. Die ganze Zeit über hatte er den Blick eisern auf das Stück Boden vor seinen Füßen gerichtet, und krampfhaft vermieden, zur Seite zu sehen. Bei jedem einzelnen Schritt hatte er die Anspannung gespürt, die seinen Körper erfaßt hatte.
Und dann, endlich, war es geschafft. Die Düsternis einer Höhle umfing ihn, und auch der Boden unter seinen Füßen fühlte sich etwas anders an als auf der Brücke. Trevin atmete erleichtert auf, und seine Anspannung lockerte sich. Er beeilte sich, zum Rand der Höhle zu gelangen; nicht nur, um den anderen Platz zu machen, sondern auch und vor allem, um so weit wie möglich von dieser unheimlichen Brücke weg zu kommen. Nun sah er sich in der Höhle um, und sofort fiel ihm ein Korridor ins Auge, der sie weiter führte, tiefer in den Fels hinein.