GQ - [Die MSG]

Iorweth war nur schwer hochgekommen, nachdem er am Feuer eingepennt war. Wenigstens war er nicht in die Flammen reingerollt, aber er hatte das gefühl. als seien einige Strähnen seiner Haare versengt. Seine Beine fühlten sich an als seien sie mit Blei gefüllt und auch seine Augen waren nur schwer offen zu halten. Er musste sich regelrecht zusammen reißen, der Gruppe zu folgen. Irritiert blickte er nach vorne als er erkannte, das Aldred hingefallen war. Vermutlich ist er im Gehen eingeschlafen. Ein gähnen entfleuchte ihm als er stehenblieb.

Ohne eine Gefühlsregung schaute Alexander auf Aldred hinab. Wahrscheinlich hatte er wegen der Müdigkeit und Dunkelheit eine Baumwurzel oder ähnliches nicht gesehen und ist deswegen hingefallen. Nach einen Moment ging Alexander zu ihm, griff unter seinen Arm und zog ihn hoch. " Steh auf Mann, wir haben keine Zeit um hier auf dem Boden rumzuliegen. Sowas kannst du später zu genüge tun" meinte er zu Aldred, als dieser nicht direkt aufstehen wollte. Doch schließlich stand er mit Alexanders Hilfe auf. "Was ist los Aldred? Bist du schon so alt, dass du im Gehen einschläfst?" spottete Alexander. Der Spott war nicht bösartig gemeint, es war nur eine gut gemeinte Schelte und vielleicht auch einen Weg um seine Müdigkeit zu vertreiben.

Unter Geralts Führung brachen sie auf, diesmal nicht auf der Strasse, sondern durchs Unterholz, immer auf dem Pfad, den der Waldläufer für sie schlug. Finn war zwar müde, aber einigermassen wach und er schaffte es, mit den anderen mitzuhalten. Allerdings fühlte er sich seltsam, weil Geralt nicht neben ihm hertrottete, wie er es gestern getan hatte. Es war angenehm gewesen, in Gesellschaft zu gehen. Natürlich war er immer noch in Gesellschaft, aber es war nicht das selbe, jemanden neben sich zu wissen oder einfach auf Aldreds kräftigen Rücken vor ihm zu starren.
Eben dieser kräftige Rücken brach plötzlich weg und Finn blieb etwas perplex stehen und starrte auf Aldred, der mit einem Aufschrei plötzlich zu Boden gegangen war. Alexander, der gleich vor Aldred und ein Stück hinter Geralt ging, reagierte sofort und half dem Schmied auf, allerdings nicht, ohne zu spotten. Finn hörte die Worte des Mannes mit Schreck und Verwirrung. Aldred hatte geschrien und war gestürzt, er hätte eigentlich eher Worte der Sorge erwartet. Das erinnerte ihn an einige der älteren Kinder aus dem Waisenhaus, was nicht gerade positiv zu Finns Bild von Alexander beitrug.
Als Aldred schon wieder stand, setzte Finn sich auch endlich in Bewegung und schloss zu den beiden Männern auf. Mit einem kurzen, ängstlichen Blick zu Alexander wandte er sich an den Gestürzten.
"Al.. Aldred. Bist du in Ordnung? Warst... war da eine Wurzel oder etwas?"

"Es... es ist nichts... es geht mir gut...", antwortete Aldred keuchend auf die besorgte Nachfrage des Jungen während er sich mit Alexanders Hilfe wieder aufrappelte, "Es war... ich hatte..." Er zögerte. Schloss den Mund wieder. Wie sollte er beschreiben, was er gesehen, gehört hatte? Was war es gewesen? Ein Traum? Eine Vision? Und würden sie ihm glauben? Nun, manche wohl... Der Grindyl mit Sicherheit. Und hatte nicht auch Alexander Botschaften von Reija erhalten? Nur: wie sollte er es in Worten fassen? Aldred war kein guter Redner. Ein guter Zuhörer, sicherlich, aber mit Worten nie begnadet gewesen. "Aber uns läuft die Zeit davon...", antwortete er schließlich schlicht, "Die Macht der Göttinnen schwindet. Sie sterben..." Für jeden anderen, der nicht gesehen hatte, was er gesehen hatte, mussten diese Worte kryptisch klingen, doch Aldred war noch zu verwirrt, als dass er dies begriffen hätte.

Gerade als er Seline angesprochen hatte, war Aldred gestürzt, und Kazeel sah sofort in seine Richtung. Einige der anderen kümmerten sich um den Menschen, doch dem schien nichts passiert zu sein. Trotzdem behielt der Grindyl ihn weiter im Auge, und dann sagte Aldred diese seltsamen Dinge, die Kazeel nie von ihm erwartet hatte. Und sie beunruhigten ihn.
Ohne weiter auf Seline oder irgendjemand anderen zu achten, hastete Kazeel zu ihm. "Was meint Ihr damit, Aldred?" fragte er, und ein sehr aufmerksamer Zuhörer vermochte vielleicht ein kaum wahrnehmbares Beben aus seiner Stimme heraus zu hören. "Die Macht der Göttinnen schwindet? Sie sterben? Was soll das bedeuten?"

Scheinbar waren Nicole und der Grindyl nicht die einzigen, die mehr über die Göttinnen wussten. Finn staunte, als nun auch Aldred von den Göttinnen begann. Die Lage schien dringlicher zu sein, als zuerst gedacht, wenn sogar Götter starben. Eigentlich hatte er den wenigen Dingen zufolge, die er gehört oder gelesen hatte, angenommen, die Göttinnen waren so etwas wie unsterblich. Aber scheinbar war die Gefahr selbst für diese gross. Aber deshalb waren sie ja auch auf dem Weg zu diesem Tempel.
"Dann... dann sollten wir uns beeilen", meinte Finn also mit leiser Stimme. "Wenn sie... sterben, oder so."

"Ich kann es nicht sagen", antwortete Aldred dem Grindyl wahrheitsgemäß, "Ich..." Nein, er konnte es nicht erklären. Es war keine Vision gewesen. Keine Offenbarung. Aber eben auch kein Traum. Ein Hilferuf. "Ich weiß es eben. Ihr müsst mir glauben!" Ihm war sehr wohl bewusst, wie viel er da verlangte. Er selbst hätte es sich nicht geglaubt. Früher. Damals, bevor er jene Vision gehabt hatte. In einem anderen Leben.
Abrupt wandte er sich ab, schritt an den anderen vorbei, weiter ins Unterholz, das im Licht der aufgehenden Sonne langsam Konturen annahm. "Wir müssen weiter! Wir haben schon zu viel Zeit vergeudet!", verkündete er und rückte die Riemen seines Rucksacks, die beim Sturz durcheinander gekommen waren, zurecht. Er versuchte Entschlossenheit zu demonstrieren, die anderen anzuspornen. Der Hohepriester hatte in ihm den Anführer der kleinen Gruppe gesehen. Er würde ein Vorbild sein müssen. Aber im Augenblick wollte Aldred vor allem alleine sein. Mehr noch als die Riemen seines Rucksacks musste er seine Gedanken ordnen.

Aldreds Beispiel folgend setzte sich die Gruppe wieder in Bewegung, Geralt an der Spitze, der ihnen den Weg bahnte und der Rest in einer Reihe hinterher. Finn folgte nun ebenfalls und behielt den Waldboden vorsichtig im Auge. Wenn Aldred umkippte, dann war bei ihm die Gefahr deutlich grösser. Vor allem, da das das zweite Mal in seinem Leben war, dass er einen Wald betreten hatte. Die Bäume hier waren zwar nicht so beeindruckend, wie der grosse Elementar beim Bauernhof, aber sie waren trotzdem gross und grün, zwei Merkmale, die Finn bisher nur selten gesehen hatte. Und der Waldboden war nicht weniger beeindruckend. Wenn man sich erstmal darauf konzentrierte, entdeckte man allerlei Dinge. Grosse Wurzeln, die sich in die Erde gruben, Pilze, die an verschiedensten Stellen aus dem Boden sprossen, das Lichtspiel der aufgehenden Sonne, die durch die Blätter leuchteten. Eine solche Vielfalt verblüffte Finn. Er hatte zwar davon gelesen, doch das alles zu sehen, war etwas anderes.

Kazeel blickte dem Menschen verwirrt hinterher. Er konnte sich nicht recht erklären, was Aldred gerade widerfahren war. Daß einem Menschen eine Vision einer Göttin zuteil wurde, erschien dem Bewahrer nicht ungewöhnlich, von derlei hatte er schon einige Male gehört. Es war mehr der Inhalt von Aldreds Worten, der ihn erschreckte.
War es möglich, daß die Göttinnen in so großer Gefahr waren, daß ihre Existenz auf dem Spiel stand? Nein, er mußte sich geirrt haben! Die Macht der Göttinnen war doch so viel größer als die jedes Sterblichen, der jemals über diese Welt gewandelt war - wie sollte es da etwas geben, das sie vernichten könnte? Sicher hatte Aldred die Vision nur falsch gedeutet, den Wortlaut nicht richtig verstanden.
Dennoch, Kazeel zweifelte nicht daran, daß die Situation ernst war. Er trat neben Alexander, der immerhin eine ganze Weile im Kloster der Reija verbracht hatte.
"Was denkt Ihr, was hinter der Vision von Aldred stecken könnte?" fragte er ihn leise. Aldred mußte ja nicht unbedingt hören, daß über ihn gesprochen wurde.

Ein paar Schritte tat Geralt noch, nachdem Aldred zusammengebrochen war, nicht daran gewöhnt, auf jemanden anderes zu achten, während er sich durch den Wald arbeitete, aber bald darauf holten die erstaunten und besorgten Rufe der Anderen doch seine Aufmerksamkeit ein. Rasch kniete er sich neben den Gestürzten und überlegte kurz, ihm die Hand hinzustrecken, um ihm aufzuhelfen. Aber es schien gar nicht nötig zu sein. Weniger der Körper als der Geist des Mannes schien angegriffen zu sein – nein, nicht einmal angegriffen, Aldred wirkte verstört, verunsichert, aber nicht verletzt.
Für einen Moment starrte Geralt entsetzt in das Gesicht des Mannes, als dieser vom Tod der Göttinnen sprach. Wie konnte das passieren? Wie konnte dieser Mann recht haben? Waren die Göttinnen nicht unsterblich? Aldred musste sich irren, ja, versuchte sie vielleicht sogar zu täuschen. Das hoffte Geralt jedenfalls, während er sich wieder umdrehte und weiter in den Wald eindrang, mit noch harscherem Schritt als vorher. So fest umklammerten seine Finger den Schaft seines Speeres dass die Knöchel weiß hervortraten. Ihm fiel gar nicht ein, dass er vielleicht zu schnell für einige war – für Finn und Kazeel, und vielleicht sogar für die anderen, die auf Waldwegen nicht so bewandert waren wie er. Aber es eilte ihn: Nicht nur, um schneller zur Rettung der Göttinnen zu kommen, sondern auch, um irgendwie den Gedanken zu entfliehen, die ihn plagten. Ihre Reise hatte sich als viel mehr und in mehr als einer Hinsicht viel anstrengender erwiesen als er erwartet hatte.

Kazeel hätte seine Stimme nicht senken müssen um Aldreds Aufmerksamkeit zu entgehen. Zu sehr war der Schmied mit dem, was er eben gehört und gesehen hatte, beschäftigt, als dass er viel aus seiner Umgebung mitbekommen hätte. Seine Gedanken rasten während die Worte seiner Göttin immer und immer wieder durch seinen Kopf hallten. Die Barriere zwischen den Welten schwindet. Welche Barriere? Und welche Welten. Ihre Welt, Ruhta, musste eine davon sein. Wie sonst hätte er als Bewohner Ruhtas sonst helfen können? Und die andere? Eine Welt der Göttinnen? Nein, die Göttinnen lebten auf Ruhta! Er hatte sein Göttin im sturmdurchtosten Tal gesehen und dieses Tal lag in ihrer Welt, daran konnte es keinen Zweifel geben. Er selbst war dort gestanden, hatte den Fels, auf dem sie in seinen Träumen gelegen hatte, berührt. Die Welt der Heerschar dann möglicherweise? Konnte es sein, dass diese Wesen nicht von Ruhta stammten, nicht hier her gehörten? Es würde einiges erklären! Aber was für eine Barriere war es, die diese Welten trennte? Aldred verstand nicht viel von solchen Dingen, aber davon, dass es magische Barrieren geben sollte, mit denen Zauberer Dinge bannten, hatte auch er schon in Geschichten gehört. Finn! Er würde Finn danach fragen müssen! Finn verstand etwas von Magie.
Wir sind nicht bereit, in eure Welt zu treten. Die Legenden, die seine Mutter ihm schon an der Krippe erzählt hatte, kündeten davon, dass die Göttinnen in früheren Zeiten noch körperlich durch Ruhta wanderten, aber seit Jahrhunderten hatte niemand mehr ernsthaft behauptet, einer Göttin begegnet zu sein. Natürlich musste das nichts heißen. Der Schreinwächter hatte gesagt, dass Weline sich in Nicole manifestiert hatte und Nicole war höchst körperlich gewesen. Und er hatte seine Göttin auf dem Fels liegen sehen. Sie war dort gewesen, auch wenn er sie nur im Traum gesehen hatte, er wusste es! Aber wenn die Barriere brach... welche Barriere überhaupt? Vielleicht doch eine Barriere, die die Göttinnen von Ruhta trennte? War es das Werk der Heerschar, dass sie schwächer wurde? Vielleicht sollte er auch mit Kazeel reden. Kazeel wusste Bescheid was die Göttinnen betraf.
Wenn uns niemand zur Hilfe eilt werden wir vergehen. War es das, was geschah wenn die Barriere brach? Sie waren nicht bereit, hatte seine Göttin gesagt. Sie hatte schwach geklungen, hilflos. Aber sie war eine Göttin! Wie konnte eine Göttin macht- und wehrlos sein? Warum konnten sie nicht in diese Welt treten, wenn sie es doch in früheren Zeiten getan hatten? Die Barriere! Alles schien auf die Barriere hinaus zu laufen. Er musste heraus finden, was es mit der Barriere auf sich hatte? Nur wie? Ob sie im Tempel der Reija Antworten finden würden?

Aldreds Visionen erschreckten auch Alexander. Jedoch schüttelte er den Gedanken daran ab - die Göttinnen und sterben? Was für ein lächerlicher Gedanke. Vielleicht brauchten sie wirklich Hilfe in dieser Welt, da sie wohl wahrscheinlich auf einer anderen Ebene oder ähnlichem existierten, aber sie würden nicht sterben. Daran glaubte Alexander fest - er musste daran fest glauben. Immerhin war sein Glaube fast alles, was ihn noch in dieser Welt hielt.
Als Kazeel ihn ansprach, schaute Alexander ihn an und begann nach ein paar Momenten zu reden :" Ich bin mir nicht ganz sicher. Natürlich könnte Aldred wirklich eine Vision gehabt haben..allerdings glaube ich, dass er sie dann falsch interpretiert hat. Die Göttinnen und sterben? Ich denke nicht. Dafür sind sie zu mächtig...". Jedenfalls hoffte er darauf. "Aber was glaubst du Kazeel? Du kennst dich doch auch mit ihnen aus, immerhin bist du ein Bewahrer."

Auch wenn er seinen Glauben als unumstößlich ansah, ertappte Kazeel sich dabei, daß ihn Alexanders Worte ein wenig beruhigten. Auch wenn er den Mantel eines Bewahrers trug, so war es doch der eines Novizen, und es gab immer noch vieles, das er noch nicht wußte.
"Ich teile Eure Meinung," sagte er zustimmend. "Die Visionen der Göttinnen sind manchmal nur schwer zu interpretieren. Ich denke auch, daß Aldred sie falsch verstanden hat. Aber ich glaube durchaus, daß sie sich in einer Notlage befinden. Ich hoffe, wir werden mehr darüber erfahren, wenn wir den Tempel erreicht haben."

Die Barriere zwischen den Welten schwindet, klang es in Aldreds Kopf, Wir sind nicht bereit, in eure Welt zu treten. Wieder und wieder hörte er ihre Stimme, ihre Worte. Wenn uns niemand zur Hilfe eilt werden wir vergehen. Doch da war ein Satz, der ihn mehr als alle anderen beschäftigte: Du, Aldred, musst uns retten! Worte, allein an ihn gerichtet. Seine Aufgabe. Aldred hatte sich nie als einen Helden gesehen. Sicher, als Kind hatte er davon geträumt ein Held zu sein, aber welcher Junge tat das nicht. Mit dem Alter waren diese Träume zu nichts weiter als Erinnerungen geworden. Er war Schmied. Sicher, er hatte gekämpft auf seinen Reisen, seiner Suche. Gegen Überzahlen. Gegen Monster. Gewiss, er hatte eine Mission. Eine Queste. Seine Göttin zu finden. Aber trotz alledem hätte er sich nicht als Helden bezeichnet. Als Sucher, ja. Aber nicht als Helden. Ein Held wusste, warum er seine Taten vollbrachte. Er hätte nicht sagen können, warum er damals in die Eisigen Einöden gereist war. Und seitdem durch halb Ruhta. Um seine Göttin zu finden. Aber was dann? Warum musste er sie finden? Er hätte es nicht sagen können, er wusste es nicht. Hatte es nie gewusst. War blindlings aufgebrochen.
Und nun? War dies nun die Antwort? Musste er sie finden um sie zu retten? War es seine Bestimmung, in diesem aufkommenden Krieg eine Rolle zu spielen? War seine Göttin ihm deshalb damals im Traum erschienen? Hatte sie bereits gewusst, dass sie ihn brauchen würde? Aber warum ihn? Er war kein Held, er war nur ein einfacher Schmied! Was war es, dass ausgerechnet ihn, Aldred Thjurenson, dazu auserwählte, eine Göttin dieser Welt zu retten? Aldred hatte viele Entbehrungen auf sich genommen seit er damals seine Schmiede Hals über Kopf verlassen hatte. Er hatte sich dennoch nie nach seinem alten Leben zurück gesehnt und tat es auch jetzt nicht. Die Suche, davon war er fest überzeugt, war seine Bestimmung und Menschen hatten ihrer Bestimmung zu folgen. Dies war der Weg, für den er geboren war. Aber unzweifelhaft war damals, in diesem früheren Leben, vieles einfacher gewesen. In seiner Schmiede hatte Aldred gewusst, was er zu tun hatte. Aber wie rettete man eine Göttin vor einer Gefahr, die man noch nicht einmal sah, geschweige denn verstand? Aldred hätte es nicht sagen können.

Seline hatte aufmerksam zugehört, seit Kazeel sie angesprochen hatte. Es war ihr schleierhaft, was der Novize von ihr gewollt hatte, doch im Prinzip war das jetzt auch eher nebensächlich. Seline wusste nicht was sie von dem was Aldred erzählte halten sollte, doch im Prinzip hatte sie nichts dazu zu sagen, darum schwieg sie, wie schon die ganze letzte Zeit. Nicht das ihr Wort, was wert gewesen wäre, als ungläubige stand sie alleine da in dieser Gruppe. Aber auch dieser Gedanke beunruhigte sie nicht. Es war ihr egal. Nun sie musste sich eingestehen, dass ihr nicht alles egal war, sie war neugierig auf den Tempel.

Fast wäre er gestolpert. Im letzten Moment konnte Finn der Wurzel am Boden noch mit einem weiten Schritt ausweichen. Er hatte sich sosehr auf die Wurzeln und die Lichter um sich konzentriert, dass er die direkt vor seinen Füssen vergessen hatte. Dabei wollte er doch wirklich nicht zur Last fallen. Er knabberte auf seiner Lippe herum, während er kurz einen Blick nach vorne warf, wo immer noch Aldreds Rücken zu sehen war. Wenigstens hatte er nicht die Gruppe verloren. Sein Blick wanderte in beide Richtungen weiter. Nur Wald. Noch war nichts von diesem Tempel zu sehen, sie hatten also noch ein Stück zu laufen. Finn seufzte leise und konzentrierte sich wieder auf den Weg vor sich.
Es dauerte nicht lange und die Wurzeln, Pilze, Kräuter und Lichtspiele, die er in seinem Leben noch nie gesehen hatten, nahmen ihn wieder in Beschlag. Er verstand nicht, wie die anderen so teilnahmslos gehen konnten. Dieser Wald lebte, Finn konnte es förmlich spüren. Es war ein beeindruckendes, einschüchterndes Gefühl, dass da etwas Grösseres war als er selbst. Und während er gerade die Sonnenflecken betrachtete, die auf einem Stück Waldboden zu sehen war, sah er sie wieder. Einige kleine Schatten huschten durch das Licht und verschwanden hinter dem nächsten Baum. Erschrocken zuckte Finn zusammen und sah sich hastig um. Niemand sonst schien es bemerkt zu haben. Was war das wohl gewesen?

Gedanken, dunklen Gewitterwolken gleich, brodelten hinter Amuns Stirn. Wenn die Göttinnen doch in Gefahr waren, warum hatten sie keine brauchbarere Truppe zusammengestellt? Landgeher! Ein Kind unter ihnen, obendrein! Eine Handvoll Avior hätte den Tempel längst erreicht. Anhand des Sonnenstands ließ sich leicht abschätzen, wie schnell sie vorankamen. Es ließ sich mit verdammt nochmal nicht schnell genug zusammenfassen. Als Aldred fiel konnte Amun nicht anders als Häme zu fühlen. Einem Avior wäre das nicht passiert. Und dann wollte Aldred eine Vision gehabt haben. Klar. Hatte eigentlich jeder hier Visionen außer Amun? Waren die anderen Göttinnen einfach so gesprächig, dass sie nicht einmal eine Woche ohne eine "Vision" verstreichen lassen konnten?
Die Lebendigkeit des Waldes, den sie durchstreiften ging an Amun derzeit völlig verloren.

Die Sonne war schon ein Stück hochgeklettert und trotzdem waren sie noch nicht am Tempel angekommen. Alexander rief sich die Karten in Erinnerung. Wenn sie weiterhin mit dieser Geschwindigkeit gehen würden, würde die Sonne ihren Zenit erreichen, bis sie am Tempel ankamen. Er seufzte - warum nur mussten sie so langsam sein? Doch leider gab es in so einen dichten Wald keine Möglichkeit, um schneller voran zukommen.
Kurze Zeit später konnte die Gruppe ein lautes Krachen im Unterholz hören. Es kam von der linken Seite und war wohl ein Dutzend Meter entfernt und hörte sich so an, als ob ein großes - ein sehr großes - Tier sich einen Weg bahnen würde. Erschrocken blickte Alexander in das Gehölz. Was war das? Er konnte nichts erkennen, dafür waren die Schatten zu dicht. Doch wenige Momente später brach ein Geschöpf aus dem Wald und blickte sie genau so erschrocken an, wie Alexander ihn. Alexander hatte diese Rasse nur in Büchern gesehen. Es war fast drei Meter groß, doppelt so breit wie Alexander und ging auf zwei Beinen. Fett schmückte seinen Bauch und an Kleidung trug es nur einen Lendenschurz. In der rechten Hand war eine große, hölzerne Keule. Es war ein Oger. Es war ein blutender Oger. Mehrere Schnitte fuhren durch seinen Körper und er konnte einen Pfeilschaft ,über den Nacken herausragen, sehen. Alexander zog sein Schwert. Zwar wusste er nicht, ob der Oger sie angreifen würde, aber er wollte auf Nummer sicher gehen.
Doch bevor er irgendetwas sagen oder tun konnte, sah er hinter dem Oger noch mehrere Gestalten. Doch es waren keine weiteren Oger, sondern es schienen Menschen zu sein, die sich in pechschwarzen Rüstungen hüllten. An ihren Schwertern klebte Blut - sie schienen den Oger zu jagen. Auch der Oger bemerkte sie. Mit einem Grollen drehte sich der Oger um und hob seine Keule. Angriffslustig schrie er die Verfolger an. Als sie näher kamen, erkannte Alexander, dass es keine Menschen waren sondern die schwarze Heerschar. Oder jedenfalls ein paar von ihnen. Warum waren sie hier? Und warum jagen sie den Oger? Alexander wusste die Antwort nicht darauf. Aber es war klar, dass der Oger seine Gruppe nicht angreifen würde, sondern gegen die Schwarzen kämpfen würde. Und dabei würde Alexander ihn tatkräftig unterstützen.

Das wohl einzig gute, das man der Situation abgewinnen konnte, war, dass die Schwarzen einzig durch Zufall auf sie gestoßen waren während sie die Bestie, bei der es sich ihrem Aussehen nach nur um einen Oger handeln konnte, verfolgt hatten. Es würde selbstverständlich nichts daran ändern, dass sie sie dennoch angreifen würden, dass sie möglicherweise sogar von ihrem ursprünglichen Ziel ablassen und sich ganz auf die Gruppe konzentrieren würden falls sie erkannten, wen sie da vor sich hatten. Oder wenn sie in den kleineren, weniger wehrhaften Menschen einfach die leichtere Beute sahen. Was den Oger anging, so gab dieser bestenfalls einen zweifelhaften Verbündeten her. Er schien bereit gegen die Heerschar zu kämpfen - vielleicht sah er in ihnen ebenfalls unerwartete Verbündete, vielleicht hatte ihr Auftauchen ihn auch nur derart überrascht, dass seine animalischen Instinkte vollends die Kontrolle übernahmen und er sich wie ein in die Ecke getriebenes Tier verteidigen würde - doch Aldred bezweifelte, dass er dabei große Rücksicht auf sie nehmen würde. Tumbe Kreaturen wie er, das hatte Aldred im Norden gelernt, waren gänzlich unberechenbar und sie würden sich vor seiner Keule ebenso in Acht nehmen müssen wie vor den Klingen der Schwarzen, wenn sie sich in den Kampf warfen. Dass sie kämpfen würden - dass sie es mussten - daran konnte kein Zweifel bestehen. Sollten die Schwarzen den Oger nieder machen würden sie anschließend sie verfolgen. Oder, schlimmer noch, Verstärkung rufen und sich mit dieser auf ihre Fährte setzen. Sollte der Oger den Kampf trotz ihrer Hilfe dennoch nicht überstehen wäre Aldred dies allerdings nicht unrecht gewesen. Er wollte gar nicht erst wissen, wie die Kreatur auf sie reagieren würde sobald keine Feinde mehr übrig waren. Würde sie Beute in ihnen sehen?
Langsam, fast ruhig nahm er den Schild vom Rücken und zurrte die Riemen fast an seinen Unterarm. Dies war dieser merkwürdige Moment, in dem niemand es wagte den ersten Schritt zu tun, in dem beide Seiten sich waffenstarrend gegenüber standen, auf einen Fehler des anderen wartend. Oder darauf, dass irgendjemandem die Nerven durchgingen. Aldred hätte auf den Oger gewettet, doch es war einer der Schwarzen, der den ersten Schritt tat. In eben dem Moment, als der Schmied seinen Hammer vom Gürtel löste, sprang einer der Schwarzgerüsteten vor und trieb dem Oger einen Langspieß in die bloße, fleischige Brust. Die Kreatur reagierte sofort und drosch mit der Keule zu. Es war ein hoher, vertikaler Hieb, den nichts und niemand hätte aufhalten können. Ehe der Schwarze seinen Spieß auch nur weiter in das Fleisch des Ogers treiben konnte ging er mit zur Unkenntlichkeit zerschmettertem Helm zu Boden. Für das restliche gute Dutzend schwarzer Jäger gab es nun kein Halten mehr und auch der Oger warf sich mit Wucht in den Kampf.
"Lasst keinen entkommen!", keuchte Aldred tonlos, dann stürmte auch er, dem Drang erliegend, vorwärts.

Kazeel war erschrocken zurückgezuckt, als der Oger vor ihnen aufgetaucht war. Kreaturen solcher Größe kannte er bislang nur aus Büchern. Er wich vorsichtig einige Schritte zurück und nahm seinen Stab in beide Hände. Hoffentlich mußten sie nicht gegen diese Bestie kämpfen!
Dann traten die schwarzgepanzerten Krieger auf den Plan, und mit einem Mal kam ihm der Oger beinahe unwichtig vor - dieser Gegner würde wohl noch deutlich härter und gefährlicher sein. Eine kurze Zeitlang war es vollkommen still, und selbst der sie umgebende Wald schien in gespanntem Schweigen erstarrt zu sein.

Dann griff einer der schwarzgepanzerten den Oger an und fügte diesem eine Verletzung zu, ehe er buchstäblich in den Boden gestampft wurde. Der Kampf brandete los, und Aldred schien fest entschlossen zu sein, sich einzumischen. Somit war es auch für Kazeel selbstverständlich, sein Bestes zu geben.
Einer der schwarzgepanzerten stürmte mit erhobenem Schwert auf Aldred zu, und Kazeel beschloß, daß dieser Feind Priorität hatte. Er hob seinen Stab mit der einen Hand und malte mit der anderen eine dunkelviolett leuchtende Rune in die Luft, während er mit leiser Stimme eine kurze Abfolge fremdartig klingender Worte murmelte. Dann richtete er den Stab auf sein Ziel.
Im nächsten Moment erstarrte der Kämpfer und krümmte sich dann zusammen. Er hielt ein Schwert in der einen Hand; mit der anderen wollte er sich an den Kopf fassen, als litte er starke Schmerzen. Ein gequältes Knurren drang aus seinem Helm hervor, er schien nicht länger in der Lage zu sein, sich zu verteidigen.

Iorweth dachte, er würde träumen, als plötzlich ein riesiger Oger auf sie zustürmte. Er erkannte, das der Oger gejagt wurde. Schwarze Krieger hetzten hinter dem Oger her . Aldred griff die Gruppe an und Iorweth sah ihm nach. Dann schien auch der Grindyl in den Kampf einzugreifen. Der Elf runzelte kurz die stirn, dann zog er seine Schwerter auf ihrer Halterung am Rücken und griff einen der Schwarzen an. Der Kampfrausch zog ihn aus der Müdigkeit heraus. Iorweth spürte, wie das Feuer durch sein Blut rauschte. Er Kämpfte nun, ohne nachzudenken.

Aldred hatte keine Zeit, sich über das Verhalten seines Angreifers zu wundern. Den Schild erhoben um seine Flanke zu decken drosch er mit dem Hammer zu, traf den Wehrlosen am Helm. Der Krieger knickte ein, machte aber noch immer keine Anstalten, sich zu verteidigen. Aldred schlug ein zweites mal zu, wieder auf die selbe Stelle zielend, dann ein drittes mal. Als der schwarz Gerüstete reglos zu Boden sank war er sicher, dass er nicht wieder aufstehen würde. Viel Zeit zum Verschnaufen blieb ihm jedoch nicht. Schon trat ihm der nächste entgegen, ein hochgewachsener, hagerer Kerl in schwarzem Leder und eisernem Vollhelm. Seine Axt biss in Aldreds Schild, konnte die massive Eiche jedoch nicht durchdringen. Der Schmied hieb seinerseits nach dem Schwarzen, zielte auf die Schulter, der Hammer jedoch glitt glatt durch sie hindurch als wären es nicht mehr als Staub und Schatten, gegen die er da kämpfte. Schlimmer noch, der Schattenkrieger trat geradewegs durch ihn hindurch und baute sich in dessen Rücken auf. Fluchend wirbelte Aldred herum und bekam die Axt eben noch zwischen Hammer und Schildkante eingeklemmt ehe sie auf seinen ungeschützten Kopf nieder fahren konnte - nur um plötzlich einen brutalen Stoß in den Rücken zu bekommen, der ihm den Schmerz bis hinauf zum Nacken jagte und ihn eine volle Mannslänge nach vorn taumeln und in die Knie gehen ließ. Einzig das Kettenhemd, das er über seinem Wams trug, hatte wohl schlimmeres verhindert. Ehe Aldred sich auch nur wieder fangen konnte hatte der Axtkämpfer nachgesetzt und ließ seine Waffe beidhändig herab fahren. Irgendwie schaffte es Aldred erneut, seinen Schild zwischen sich und das Blatt der Axt zu bringen, doch die Wucht des Treffers riss eine gute Ecke ins Holz und schickte ihn vollends zu Boden.

Geralt bemerkte den Oger rasch, vielleicht nicht als erster, aber auch wenn er nicht direkt auf ihn zukam war der Lärm, den das riesige Wesen verursachte, für seine geübten Ohren einfach zu bemerken. Auch der Kampfeslärm, der der Bestie folgte, war bald kaum zu überhören. Irritiert wandte sich der Waldläufer den Neuankömmlingen zu, und nach einem Moment ungläubigen Zögerns sprang der Bogen wie von selbst in seine Hand. Er feuerte rasch, in schneller Folge, zwei, drei, Pfeile. Der erste verfehlte sowohl Oger als auch Schwarze, der zweite fuhr mitten durch einen sich zum Schemen verflüchtigenden Angreifer hindurch, aber der dritte warf einen nieder, der gerade eine grausam gezackte Schlachtaxt zum Hieb gegen den Oger erhoben hatte. Rasch suchte Geralt Deckung hinter einem Baum, vor den Augen und vielleicht auch Geschossen seiner Feinde; mit Pfeil und Bogen konnte er mehr ausrichten als mit dem Speer.
Wie war die schwarze Heerschar schon wieder vor sie geraten? Was hatte sie denn überhaupt mit diesem Oger zu schaffen? Einmal mehr wuchsen die Dinge Geralt über den Kopf. Aber eines war noch klar: Auf wen er gerade schießen musste. Das würde für den Moment genügen, und danach würde er sich wieder Gedanken machen können.

Erschrocken beobachtete Kazeel das Manöver des schwarzgepanzerten, mit dem dieser Aldred austrickste. Und noch mehr Schrecken empfand er, als der Mensch kurz darauf zu Boden ging. Immerhin war ihm nun klar, daß diese Kreaturen sehr dem Schatten zugetan schienen.
Instinktiv schritt er daher mit Reijas Magie ein und beschwor eine etwa faustgroße Kugel aus hellem Licht über Aldred, die schnell anschwoll und dann in einem gleißenden Lichtblitz zerplatzte. Der Zauber fügte keinen Schaden zu, aber das brauchte er auch gar nicht. Die beiden Krieger schrieen gepeinigt auf, als sie von dem grellen Licht geblendet wurden, und rissen ihre Arme vor die Visiere ihrer Helme. Zumindest für eine kleine Weile würden sie kampfunfähig sein. Das würde hoffentlich reichen, damit einer der anderen Aldred zu Hilfe eilen konnte.


18/28

Plötzlich wandelte sich die Ruhe und das gelegentliche Gezwitscher des erwachenden Waldes zu etwas Lautem, Wildem. Mit Gebrüll und brechenden Ästen durchbrach eine gewaltige Gestalt das Unterholz und stoppte vor der Gruppe, in seinem Rücken eine Truppe schwarzer Reiter. Finn musste sich zurückhalten, um nicht aufzuschreien. Stattdessen drückte er sich an den Stamm eines Baumes und kauerte sich dort zusammen. Er war keine Hilfe, doch er wollte nicht im Weg stehen oder gar die Aufmerksamkeit der Schwarzen oder des Ungetüms auf sich ziehen. Dennoch spähte er vorsichtig um den Stamm herum, um das Kampfgeschehen im Auge zu behalten. Mit Schrecken stellte er fest, dass Aldred in Bedrängnis geraten war. Doch dann erschien aus dem Nichts eine Kugel aus Licht. Finns Augen sahen zu Kazeel. Es musste der Grindyl sein, der diese Magie wirkte. Trotz ihrer Notlage konnte Finn nicht verhindern, ein klein wenig Eifersucht auf den Bewahrer zu verspüren. Könnte er selbst doch auch Magie wirken, dann wäre er nützlich. Aber von hier konnte er nicht einmal die wenigen Zauber nutzen, die er kannte. Das einzige, was ihm übrig blieb, war abzuwarten und auf einen guten Ausgang des Kampfes zu warten, den die anderen da fochten. Er presste sich wieder gegen den Stamm und biss sich auf die Lippe. Er würde jetzt nicht weinen!